Ein unerwartetes Weihnachtsgeschenk für Annie

Ein unerwartetes Weihnachtsgeschenk für Annie

21. Dezember 2022 0 Von Christine M. Brella

Der Geruch nach gebratener Hähnchenbrust zog unter der Türe des Hotelzimmers hindurch und brachte meinen Magen zum Grummeln. Genüsslich streckte ich meine Füße näher in Richtung der wärmenden Flammen des Kamins, wackelte mit den Zehen und zog die Decke enger um meine Schultern. Für einen Moment ließ ich die Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens in meinen Schoß sinken und starrte aus dem Fenster. Draußen war es bereits seit einer Stunde stockdunkel. Die Eisblumen innen an der Scheibe waren in den letzten Tagen zu einem mannigfaltigen Garten erblüht. Schwere Schneeflocken segelten am Fenster vorbei.

Ob es in Kentucky bei Theresa und Christopher wohl ebenfalls seit Tagen schneite? Jetzt am Vorabend des Weihnachtsmorgens bohrte sich der Splitter des Heimwehs besonders tief in mein Herz. Allen Hürden, die ich schon überwunden hatte und die noch vor mir liegen, zum Trotz bereute ich es selten, die Stelle in Abilene angenommen zu haben. Die leuchtenden Augen meiner Schüler entschädigen mich für jeden Kampf – egal wie blutig oder hinterhältig. Doch an diesem besonderen Tag im Jahr sehnte ich mich mich danach, meinen Liebsten nahe zu sein. Wie es meiner betagten Pferdefreundin Midnight Maiden wohl ging?

Ein Klopfen riss mich aus meinen Träumereien. Waren die ersten Gäste bereits eingetroffen? Dass ich mich auf den Weihnachtsball freute, zu dem Mrs. McCoy nicht nur die Würdenträger der Stadt, sondern auch Geschäftspartner und Investoren der Eisenbahn geladen hatte, wäre eine rechte Überreibung gewesen. Bällen stehe ich seit jeher skeptisch gegenüber und meine magere Garderobe beinhaltete nicht ein Stück, das meine Stiefmutter auch nur ansatzweise als für diesen Anlass als adäquat befunden hätte. Doch Theresa war nicht hier und im Grunde fühlte ich mich in meinem schlichten Kleid, das ich auch vor meiner Klasse trage, um Welten wohler als in einem affektierten Ballkleid. Immerhin wollte ich mir hier keinen Ehemann angeln, sondern den mir den Respekt der Stadtbewohner erarbeiten.

Alles in allem übte allein das Buffet, das Mrs. McCoy seit heute Morgen Stück für Stück im Hotelfoyer auftürmen ließ, eine magische Anziehung auf mich aus. Gebratene Rindfleischspieße, Biskuits, Kuchen, Törtchen, Äpfel, geschmorte Ochsenbäckchen, Plumpudding, mannigfaltig gefüllte Pastetchen. Jeden einzelnen Geschmack konnte ich beinahe schon schmecken. Vor Hunger wurde es mir für einen Augenblick schummrig und ich stand schnell aus meinem Schaukelstuhl auf. Heute hatte ich meinen mageren Lohn gespart und auf das zugegebenermaßen vorzügliche, wenn auch gleichermaßen überteuerte Frühstück und Mittagessen im Hotel verzichtet. Ich empfand keinerlei Scham dafür, dass ich meinen gesamten Appetit für den Abend aufgespart hatte. Immerhin waren ja die McCoys nicht ganz unschuldig daran, dass ich noch immer hier im Hotel fest hing.

„Ja, bitte?“, rief ich in Richtung der Tür.

Diese öffnete sich einen Spalt breit und der sommersprossige Kopf des Stallburschen schob sich hindurch. „Die Mrs. lässt nach Ihnen schicken, Miss Bailey.“

„Richte ihr doch bitte aus, dass ich mich nur kurz fertig mache.“

„Das geht nicht.“ Ungeduldig trat Jimmy von einem Fuß auf den anderen.

Ich musste ein Schmunzeln unterdrücken. Der Junge schaffte es auch im Unterricht kaum eine Minute still zu sitzen und es kostete mich regelmäßig etliche Nerven ihn davon abzuhalten seinen Mitschülern am Laufenden Band Streiche zu spielen. In mehr als einer Weise erinnerte er mich an George im gleichen Alter.

„Die Mrs. sagt, sie habe eine Überraschung vorbereitet und Sie sollen sich beeilen. Ziehen Sie sich lieber warm an!“

Verwundert schlüpfte ich in meine Stiefel und warf mir mein warmes Cape über. Die Spannung zwischen Mrs. McCoy war auch jetzt schon groß genug und ich wusste mittlerweile wie kurz deren Geduldsfaden sein konnte.

„Meine Liebe!“ Mrs McCoy trat mir am Fuß der Treppe in voller Winterausgehmontur mit ausgestreckten Armen und einem Lächeln entgegen, das mit dem Foyer um die Wette strahlte.

Sie hatte hier unten wahre Wunder bewirkt! An allen Wänden waren verschnörkelte Kandelaber entzündet worden und der warme Kerzenschein brach sich in etlichen kleinen Spiegeln. Die Tische waren am Rand arrangiert und sahen mit ihren blütenweißen Tischdecken, dem Silberbesteck und allerlei silbrig schimmerndem Tischschmuck allerliebst aus. Über der Raummitte funkelte der enormen Kronleuchter und der Platz darunter war als Tanzfläche freigehalten worden. Mein hungriger Blick saugte sich am Buffet fest. Welche der Köstlichkeiten sollte ich mir bloß als erste sichern und welche bis zum Schluss aufheben?

„Wir müssen uns eilen!“

Ich riss meinen Blick von all den Leckereien los und konzentrierte mich wieder auf meine Gastgeberin, deren Lächeln mittlerweile ein wenig angespannt wirkte.

„Ich muss unbedingt zurück sein, bevor der erste Gast eintrifft! Doch zuvor habe ich ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk für Sie, meine Liebe! Sie werden begeistert sein!“ Mrs. McCoy lächelte wenn möglich noch breiter und winkte zur Tür. „Kommen Sie! Kommen Sie!“

Neugier brodelte in mir auf. Ein Geschenk? Was konnte das sein? Gemeinsam traten wir vor die Tür. Sofort fuhr mir ein eisiger Wind unter die Röcke und ich zog mein Cape fester um die Schultern. Das schimmernde Licht einer Kutschlaterne brachte den Schnee um uns zum Funkeln. So spät hatte ich das Hotel jetzt im Winter nie verlassen. Ich fühlte mich, als beträte ich ein fremdes Feenreich!

„Bitte einsteigen die Damen!“ Jimmy grinste uns vom Kutschbock eines Einspänners aus zu und wedelte geschäftig zur freien Sitzbank hinter sich. Offensichtlich genoss er es, dass es zur Abwechslung einmal er war, der seiner Lehrerin Anweisungen erteilen konnte.

Mrs. McCoy verlor keine Zeit, zog sich zur Kutsche hinauf und ließ mir keine Wahl, als den Platz neben ihr einzunehmen. Noch während sie eine Decke über unsere Beine schlug, schnalzte Jimmy mit der Peitsche und das Pferd trabte an. Der Schnee stob unter der Kutsche auf und das Laternenlicht tanzte über die verzauberte Welt. Wie eine weiße Decke verhüllte der Schnee den Staub der Straße und verlieh selbst der windschiefsten und schäbigsten Hütte der Stadt etwas Majestätisches. Viele Fenster waren hell erleuchtet. Ich stellte mir vor, dass sich die Familien dahinter mit einem dampfenden Abendessen um den Kamin versammelt hatten. Vielleicht las der Vater die Weihnachtsgeschichte vor? Oder eines der Kinder rezitierte ein Weihnachtsgedicht, das wir in den letzten Tagen gemeinsam einstudiert hatten?

Wir näherten uns immer weiter dem Stadtrand und allmählich keimte ein Verdacht in mir auf. Kurz nach meiner Ankunft in Abilene hatte ich diesen Weg unzählige Male genommen. Doch nachdem auch nach Wochen kein Baufortschritt an der Schule ersichtlich gewesen war, waren meine Besuche immer seltener geworden. Mit dem ersten Schneefall hatte ich meine Hoffnung begraben, dass ich mit meinen Schützlingen noch vor dem Frühjahr in das neue Schulhaus umziehen konnte und meine Visiten gänzlich eingestellt. Wartete etwa dort die versprochene Überraschung? Ungeduldig lehnte ich mich nach vorne und versuchte die Dunkelheit mit meinem Blick zu durchdringen. Amüsiert lachte Mrs. McCoy auf.

„Haben Sie meine kleine Überraschung schon durchschaut?“ In ihren Augen funkelte der Schalk.

Tatsächlich tauchte vor uns die kleine Schule auf und Jimmy bremste ab. Meine Füße begannen vor Aufregung zu wippen und sobald wir standen, sprang ich hinunter in den knirschenden Schnee. Viel war in der Dunkelheit unter der Schneedecke nicht zu erkennen. Doch das Gebäude wirkte zumindest von außen geschlossen und vollständig. Sogar der Turm für die Schulglocke war fertiggestellt. Ein Wunder!

„Nicht so stürmisch, meine Liebe!“ Mrs. McCoy lachte amüsiert und holte mich ein, bevor ich die Tür erreicht hatte.

Vor mir betrat sie den Schulraum und leuchtete uns mit der Laterne den Weg. Der Geruch nach frischen Brettern und Baumharz hüllte uns ein. Ich erkannte schattenhaft mehrere Bankreihen für die Schüler und ganz vorne ein Lehrerpult. Die Fenster waren vernagelt. Wahrscheinlich waren die Glasscheiben dafür noch nicht eingetroffen. Mein Herz raste vor Aufregung. War das alles wirklich wahr? Bekam ich heute endlich, endlich!, mein eigenes Reich?

„Tada!“ Mit einer überschwänglichen Geste wies Mrs. McCoy auf den Raum. „Wie gefällt Ihnen Ihr Geschenk? Es hat einige Überzeugung gekostet, meinen Mann dazu zu bringen, die Schule zu priorisieren, aber am Ende kann er mir keinen Wunsch abschlagen! Pünktlich heute Nachmittag ist alles fertig geworden. Und das ist noch nicht alles!“

Sie führte mich zu einer Tür an der hinteren Wand und zog sie mit Schwung auf. Neugierig spähte ich hindurch und meine Augen füllten sich mit Tränen. Der Raum mutete an wie eine voll ausgestattete Puppenstube. Im Zentrum stand ein eiserner Herd, daneben ein Regal und ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Die linke Wand wurde von einem schmalen Bett eingenommen. Gegenüber wartete eine Truhe darauf, ihre Geheimnisse enthüllen zu dürfen.

Mit einem unterdrückten Freudenschrei wirbelte ich in den Raum, drehte mich wie zum Tanz einmal um mich selbst, störte mich nicht daran, dass ich mir dabei am Bettpfosten schmerzhaft die Hüfte stieß und ließ mich überwältigt auf einen der Stühle fallen.

Meine Augen suchten meine Gönnerin. „Danke!“, brachte ich zitternd hervor und drückte mir die Fingernägel in den Handballen, um nicht vor ihr in Tränen auszubrechen. Mein Traum war wahr geworden! Mrs. McCoy lächelte gönnerhaft.

„Schön, dass es Ihnen gefällt, meine Liebe! Dann lasse ich Sie mal Ihr Reich erkunden. Meine Gäste warten.“ Damit drehte sie sich um und die Flammen der Laterne tanzten in Richtung des Ausgangs.

„Oh! Wir müssen schon wieder gehen?“, rief ich ihr hinterher, stand zögernd auf und warf einen letzten Blick in den Raum. Zu gern hätte ich alles jetzt sofort näher in Augenschein genommen. Dafür würde ich sogar das verlockende Buffet noch ein wenig warten lassen.

Überrascht drehte sich Mrs. McCoy zu mir um. „Nein, nein. Nur ich gehe. Sie wohnen ab jetzt ja hier.“

„Aber meine ganzen Sachen sind noch im Hotel“, protestierte ich und ballte meine kalten Fäuste zur Faust. Jetzt nachdem die Aufregung nachließ, merkte ich, dass ich mittlerweile bis auf die Knochen durchgefroren war. Für heute hatte ich genug Abenteuer erlebt. „Ich glaube, ich würde lieber gerne noch eine Nacht Ihr Gast bleiben und mich morgen dann ganz in Ruhe hier einrichten.“

„Es wäre natürlich ganz bezaubernd, Sie heute Abend bei uns zu haben, meine Liebe. Doch bedauerlicherweise völlig unmöglich.“ Mrs. McCoy lachte eine Spur zu schrill. „Wie Sie wissen, erwarten wir eine ganze Reihe bedeutender Gäste und Ihr Zimmer ist bereits anderweitig verplant. Das ist natürlich auch ein Grund, warum ich meinen Mann dazu gedrängt habe, Ihr Heim noch heute fertigzustellen! So gewinnen alle dabei, finden Sie nicht? Und jetzt lassen Sie uns keine weitere Zeit verlieren! Ich schicke Jimmy später noch mit Ihrem Gepäck vorbei.“

Damit zog sie die Tür hinter sich ins Schloss und ließ mich im Dunkeln zurück.

Fassungslos sank ich auf das harte Bett. Was wurde hier gespielt? Das konnte doch nicht ihr Ernst sein! Natürlich war ich dankbar, für mein Geschenk. Irgendwie. Aber deutlich mächtiger als Dankbarkeit spürte ich in diesem Augenblick die Kälte, meinen Hunger und eine tonnenschwere Ohnmacht, die mich nieder drückte. Wo sollte ich nur anfangen? Das Haus zu verlassen, kam nicht in Frage. Alle Geschäfte hatten vor Stunden geschlossen, ich konnte mich unmöglich in einem Saloon aufwärmen und im Hotel war ich nicht länger willkommen. Heiße Tränen rollten mir über die kalten Wangen und vereinigten sich mit dem Tropfen an meiner eisigen Nase. Ich wollte winseln wie ein ausgesetzter Hundewelpe.

Nein! So leicht ließ ich mich nicht ins Boxhorn jagen! Entschlossen setzte ich mich gerade auf und wischte mit dem Ärmel meine Tränen ab. Ich war nicht ausgesetzt, sondern endlich in meinem neuen Heim angekommen! Als erstes musste ich heraus finden, was mir alles zur Verfügung stand und das Beste daraus machen!

Vorsichtig strich ich über mein Bett. Auf dem harten Holzbrett lag eine dünne Matratze. Das Stroh darin knisterte leise und duftete nach Kräutern. Kissen und Decke waren dünn, rochen aber frisch gestärkt und fühlten sich glatt an unter meinen Fingern. Das war doch schon mal ganz wunderbar! Mit einer Hand am Bett tastete ich mich in Richtung des Herdes. Das Metall war eiskalt und ich nahm keinen Rauchgeruch wahr, obwohl ich intensiv daran schnupperte. Ein Griff in den Brennraum bestätigte meine Vermutung: Der Ofen war frei von jeder Asche und hatte noch nie ein Feuer gesehen. In der näheren Umgebung fand ich dann auch weder Holz noch ein Feuerzeug oder Schwefelhölzer. Das war grundsätzlich nicht weiter schlimm, denn ich hatte selbst noch nie ein Feuer entzündet und hätte gar nicht gewusst, wie ich hätte zu Werke gehen sollen.

Auf dem Herd ertastete ich einen metallischen Gegenstand und identifizierte ihn nach kurzer Untersuchung als gusseiserne Pfanne. Regal und Tisch waren leer, doch meine größte Hoffnung hatte ich von vornherein auf die Truhe gelegt. Der Deckel quietschte, als ich ihn nach oben stemmte und fiel mit einem dumpfen Schlag gegen die Wand dahinter. Was sich hier wohl versteckte? Etwas zu essen, eine zusätzliche Decke, eine Kerze, Bücher? Mit einem mulmigen Gefühl streckte ich die Hand in die Schwärze der Truhe. Tiefer, immer tiefer. Bis ich Holz unter den Fingerspitzen fühlte. Ich strich vorsichtig über die raue Oberfläche. Was übersah ich?

Schmerz schoss durch meinen Finger, ich zog ihn blitzschnell zurück und steckte ihn in den Mund. Blind tastete ich mit der anderen Hand nach dem Splitter, der sich durch meine Haut gebohrt hatte und zog ihn heraus. Die Truhe war offensichtlich leer. Mutlos sank ich wieder auf das Bett. Mit schweren Gliedern zog ich meine Schuhe aus, legte mich voll angezogen in das Bett und schlang die Decke um mich. Zitternd und mit knurrendem Magen starrte ich in die Dunkelheit. So hatte ich mir mein erstes eigenes Zuhause nicht vorgestellt.

„Miss Bailey? Sind Sie hier irgendwo?“

Steif richtete ich mich auf. Anscheinend hatte mich der Schlaf für eine kurze Zeit aus der trostlosen Gegenwart erlöst. Es war immer noch dunkel und eisig kalt. Die Türe zum Schulraum öffnete sich vorsichtig und natürlich war es Jimmy, der mich aus großen Augen anstarrte.

„Ich habe Ihre Sachen dabei, Miss. Warum haben Sie denn kein Feuer angemacht? Hier drinnen friert man sich ja den Hintern ab!“ Vorwurfsvoll starrte er mich an.

„Anscheinend hat man vergessen das Haus mit Holz auszustatten“, tat ich seinen Kommentar ab. „Stell doch die Tasche einfach auf die Truhe. Besser Du fährst schnell wieder nach Hause. Da ist es bestimmt wärmer.“

Zögernd trat Jimmy ein, stellte die Laterne am Tischchen ab und die Tasche auf der Truhe. Dann sah er sich gründlich im Raum um. Ich folgte seinem Blick und stellte fest, dass das Zimmer auch mit Beleuchtung genauso kahl blieb wie ohne.

„Wie haben Sie denn zu Abend gegessen? Haben Sie überhaupt etwas zu essen hier?“, fragte er entrüstet. „Morgen ist doch Weihnachten!“

Ich wollte ihn nicht anlügen, also schüttelte ich den Kopf.

„Aber das macht nichts“, schob ich hinterher. „Morgen kann ich ja alles besorgen.“

„So geht das nicht!“ Der Kleine stampfte mit dem Fuß auf. Bevor ich ihn aufhalten konnte, hatte er sich am Absatz umgedreht und flitzte aus dem Haus.

Kurze Zeit später klopfte es wieder an der Tür und ohne auf mein „Herein“ zu warten, wurde sie aufgeschoben. Doch statt Jimmy stand ein fremder Mann mit einem unförmigen Sack am Rücken in meinem Zimmer.

Erschrocken zog ich die Decke fester um mich. „Was wollen Sie, Mister?“

„Jimmy schickt mich mit dem Holz“, brummte er.

Ohne auf meinen Protest zu achten, stellte er seinen Sack neben dem Ofen ab und machte sich daran, ein Feuer zu entzünden. Entgeistert starrte ich auf das Geschehen, wurde aber abgelenkt, da es erneut an der Tür klopfte. Diesmal wunderte es mich schon etwas wenig, als nicht Jimmy auftauchte, sondern die kleine Lory. Seit Mrs. McCoy sie aus ihrem Hotel verwiesen hatte, hatte ich das Mädchen nur selten in der Stadt gesehen, doch ihre Kleidung wirkte so abgerissen wie eh und je.

„Jimmy hat gesagt, du brauchst was zum essen“, murmelte die Kleine und stellte einen dampfenden Topf auf den Tisch. Hinter ihr schob sich ihre Mutter in den Raum. Auf dem einen Arm trug sie Lorys kleinen Bruder, unter dem anderen klemmte ein dicker Laib Brot. Wieder klopfte es und langsam wurde es mir zu bunt. Mit fünf Leuten war der Raum jetzt schon zum Bersten gefüllt. Ich schob mich an Lorys Mutter vorbei und blockierte die Tür. Vor mir stand eine ganze Familie, die mit Decken, Essen und sogar einer Fidel beladen war. Die älteste der der Töchter erkannte ich als eine meiner Schülerinnen, doch die Eltern und die jüngeren Geschwister, hatte ich noch nie gesehen.

„Jimmy schickt uns mit heißem Gewürzwein und allerlei anderen Sachen, die warm machen“, erklärte die Mutter mit einem entschuldigenden Lächeln.

Unmöglich konnte ich all die Menschen, die mir offensichtlich helfen wollten, vor die Türe setzen.

„Stellen Sie doch bitte alles im Schulraum ab“, entschied ich kurzentschlossen. „Wenn wir die Bänke zur Seite schieben, haben wir genügend Platz für alle. Selbstverständlich müssen Sie zum Essen bleiben!“

Noch während der fremde Mann auch den Ofen im Klassenzimmer anfachte, teilte Lorys Mutter die ersten Schöpfer ihres Eintopfs auf die mitgebrachten Teller. Der Raum füllte sich mit immer weiter mit Kindern, Männern und Frauen, Lachen und wohligem Essensduft. Alle Neuankömmlinge stellten ihre Köstlichkeiten und ihre Laternen auf den Schulbänken ab, sodass der Raum im Nu hell erleuchtet war. Es dauerte nicht lange, da lockten die ersten Geigenklänge zum Tanz und eine Gitarre und ein Banjo fielen mit ein.

Während sich die ersten Tänzer sammelten und Kinder in allen Altersstufen zwischen ihren Füßen herum wuselten, lehnte ich mich neben dem wärmenden Ofen an die Wand und betrachtete staunend das bunte Treiben. All diese Leute waren gekommen, um mir zu helfen! Ich streckte die Hand nach einer dampfenden Pastete aus und schloss kurz die Augen, als mich der Geschmack nach würzigem Gemüse und Fleisch überwältigte. Ich lauschte der Musik, den aufgeregten Rufen und dem Kinderlachen und eine tiefe Dankbarkeit erfüllte mich.

„So ist es schon viel besser. Viel weihnachtlicher. Finden Sie nicht?“, fragte eine junge, etwas schuldbewusste Stimme neben mir.

Ich öffnete die Augen und sah in Jimmys ernste Augen hinunter. Meine Kehle wurde eng. All das hatte ich ihm zu verdanken!

„Danke!“, brachte ich mühsam hervor und zog den Jungen an mich, damit er meine Tränen nicht sah. „Das hast Du gut gemacht! Das ist das schönste Weihnachtsgeschenk, das ich mir je hätte erträumen können!“