Eine Neujahrsgeschichte

Eine Neujahrsgeschichte

1. Januar 2023 0 Von Nessa Hellen

Sie zieht die Schublade auf und schließt sie sofort. Die Dose mit den Erdnüssen muss hier sein. Manchmal vertut sich Sophie mit den Fächern. So lange du noch weißt wie du heißt, ist es kein Alzheimer, sagt die Schwiegertochter immer und das ist beruhigend, zumindest für den Moment.

Das Bücken geht schon lange nicht mehr so gut. Deswegen hat Sophie die Dose weiter hoch gestellt. Sie findet sie im Regal über der Spüle, schraubt den runden Metalldeckel ab und sieht nach, ob noch genug Nüsse drin sind. Zur Hälfte gefüllt. Also nimmt sie die Tüte mit den Erdnüssen aus dem Speiseschrank neben dem Herd und schüttet den Inhalt hinein bis die Dose randvoll ist. Dann schraubt sie den Metalldeckel wieder zu. Am Fenster bleibt sie stehen, um zu schauen wie das Wetter ist. Die Aussicht ist der Wahnsinn, sagen Besucher immer. Und das stimmt. Jeden Morgen kann Sophie über die halbe Stadt sehen. Im Sommer oder bei Föhn ist es so klar, das die Alpen am Stadtrand bei Sonnenuntergang hinter den Industrietürmen rot leuchten.

Aber heute ist es bewölkt. Schneeflocken wirbeln und tanzen wild. Sophie kann den Hof und die Straße vor dem Haus kaum erkennen. Geschweige denn den Park. Außerdem scheinen die Straßen nicht so befahren zu sein wie sonst. Das liegt wohl am Wetter, denkt sie sich.

Sie zieht den braunen, köchellangen Mantel über und die weiße Wollmütze. Die Dose mit den Erdnüssen steckt sie in ihren Stoffbeutel. Schnell in die Halbstiefel. Dann verlässt sie die Wohnung. Sie sperrt zweimal ab. Auch wenn sie nicht lange fort ist.

„Der Aufzug funktioniert mal wieder nicht“, krächzt es durch den Hausflur. Es ist Frau Krampe von nebenan. Immer wenn Sophie die Wohnung verlässt, steht sie schon Arme verschränkt am Türstock, als hätte sie gewartet. Sie hat schon hier gewohnt, als Sophies Kinder noch hier wohnten.

„Guten Morgen Frau Krampe“, flötet Sophie und will gleich zum Treppenhaus.

„Das waren bestimmt wieder die Yilgüns. Ich sag es ihnen, seit diese Flüchtlinge hier wohnen ist ständig der Aufzug kaputt.“

Mit fest überzeugtem Blick und die Arme verschränkt lehnt die Krampe an ihrem Türstock und zieht die Mundwinkel nach unten. Sophie will ihr sagen, dass die Familie die vor kurzen in den dritten Stock gezogen sind, aus dem Nachbarort in die Stadt gezogen sind. Und nicht aus Syrien. Doch es hat keinen Zweck das Frau Krampe zu erklären. Beim letzten Versuch hielt sie eine zwanzigminütige Rede über lose Kinderschuhe im Flur, lautes Geschrei und das hier ja bald keine Deutschen mehr wohnen.

Sophie winkt ab. „Tut mir leid Frau Krampe. Ich hab leider keine Zeit heute!“

„Gehen Sie wieder das Ungeziefer füttern?“

Sie weiß dass Frau Krampe einsam und alt ist und oft wirre Dinge erzählt die sie später wieder vergisst. Sie hofft dass sie ihr nicht wieder nachstellt. Aber das ist unwahrscheinlich, weil der Aufzug nicht geht.

Sophie muss die sieben Stockwerke selbst hinunter laufen. Nach jedem Treppenabschnitt macht sie eine kleine Pause.

Es ist nicht ganz so schlimm. Aber aus der Puste kommt sie schon sehr leicht. Die Füße wollen auch nicht mehr so wie früher. Doch es muss irgendwie gehen, denn ihre Hilfe wird dringend gebraucht. Die Raben brauchen Futter um gut durch den Winter zu kommen.

Der Park liegt gegenüber von ihrer Wohnung. Sie muss nur über die Hauptstraße gehen. Jeden Tag ist dort der Verkehr so schlimm, dass man die Fenster nicht offen lassen kann. Es stinkt nach Benzin und Abgasen. Ein Wunder, denkt sie sich jedes Mal, dass auf der anderen Seite noch Bäume wachsen. Als sie vor die Türe tritt, atmet sie kalte Luft ein. Weiße Flocken taumeln aus dem Himmel. Graue Haarsträhnen wehen ihr ins Gesicht. Dieses Ritual hält sie fit. Sie streift sich die Kapuze vom Mantel über die Wollmütze und läuft in Richtung Hauptstraße. Noch einmal dreht sie sich um. Aber Frau Krampe geht bei diesem Wetter nicht raus. Sophie kann sich nichts schöneres vorstellen und lächelt. Schnee und Eis erinnern sie an Keks-Duft, Kinderlachen, an ein zu Hause.

Als sie die große Straße erreicht ist es ungewohnt still. Normalerweise passieren die Autos und Lkws im Sekundentakt die Ampeln. Sophie sieht sich erstaunt um. Keine Fahrzeuge. Niemand rennt auf dem Gehweg um noch in die Straßenbahn zu springen. Keine Radfahrer hetzen an ihr vorbei. Der Bürgersteig, die Straße, sowie die Schienen sind menschenleer. Nur eine Windwoge fegt eine Plastiktüte über den schneebedeckten Asphalt hinüber zum Parkeingang. Bestimmt hat das Alles seinen Grund.

Im Park ist alles weiß und scheint unendlich weit. Doch etwas ist anders. Das merkt sie sofort, als sie wie angewurzelt zwischen den ersten Kastanien verweilt und ihre Augen die kahlen Äste absuchen. Eine Nuss schon in der Hand, eigentlich bereit zum Verfüttern. Doch wo sind sie? Der Wind schüttelt Schnee von den Baumwipfeln. Ansonsten ist es totenstill. Weder Krächzen, noch Flattern. Ihre schwarz gefiederten Lieblinge hüpfen nicht wie sonst durch die Äste. Sophie zwingt sich trotz ihrer Verwirrung ein paar Schritte voran. Sie schnalzt mit der Zunge. Ihre Finger umklammern die Nuss. Voller Hoffnung wirft sie diese einfach von sich. Dann die nächste. Und macht unsicher Geräusche, die so klingen, als wollte sie Katzen anlocken. Doch eigentlich kommen die Raben immer schon angeflogen, wenn Sophie den Park betritt. Inzwischen kennen sie Sophies Bewegungen, ihren Geruch und sie wissen genau, dass sie Futter von ihr bekommen.

Ein paar Schritte weiter bleibt sie stehen und sieht sich um. Schwarze nackte Bäume. Stiller Schnee. Der Eingang scheint unendlich weit weg. Etwas schnürrt sich um ihre Brust. 

„Was ist hier los?“, keucht sie in die bitterkalte Luft. Auf einmal ist die Temperatur um ein paar Grad gesunken. Warum kann sie sich nicht erklären. Noch einmal sucht sie mit den Augen den Himmel und die Kronen ab und zieht sich den Mantel fester um ihren Körper. Jetzt ärgert sie sich, dass sie keine Handschuhe angezogen hat. Plötzlich ein ziehender Schmerz an ihrem Finger. Eine Schicht Eis zieht sich sehr schnell wie Zuckerguß über die Metalldose. Erschrocken lässt sie los. Sophie kann nicht glauben was sie eben gesehen hat und bückt sich hinunter, geht in die Knie. Doch die Dose ist schock gefrostet. Sie entdeckt Gefrierbrand am Zeigefinger. Sie hört ein Flügelschlagen! Etwas das größer sein muss als ein Rabe. Sie fährt herum. Doch da ist nichts. Sie steht auf. Schwindel steigt ihr in den Kopf, die Kälte beißt so sehr, dass ihre Lunge beginnt Eiskristalle auszustoßen. Sie sollte gehen, sollte ihre Beine in die Hand nehmen und laufen. Etwas ist hier. Sie spürt es und sieht sich hektisch um. Die Neugierde oder die Tatsache, dass Sophie ihre Beine nicht mehr richtig bewegen kann, lässt sie verweilen. Zu spät, um weg zu laufen. Zwischen den schwarzen Stämmen huscht etwas das so schnell wie ein Reh und so weiß wie der Schnee selbst ist.

Ungläubig und mit offenem Mund versucht sie dem Körper zu folgen, der immer wieder in ihr Blickfeld zischt und wieder verschwindet. Dann wird es still.

„W…wer ist da?“, flüstert Sophie. Keine Antwort. Nur ein Schnauben. Nicht ihr eigenes. Denn sie merkt nicht einmal, dass sie seit ein paar Sekunden die Luft anhält. Ein Raubtier, denkt sie. Es muss aus dem Zoo geflohen sein. Deswegen ist die ganze Straße wahrscheinlich gesperrt. Sie nimmt sich vor öfter Nachrichten zu hören. Was soll sie tun? Sie versucht sich daran zu erinnern, was sie über die Begegnung mit wilden Tieren weiß. Nicht weg rennen. Sich klein machen. Mehr fällt ihr nicht ein.

Wieder ein Schnauben. Ein Wolf? Sophies Körper zuckt, zwingt sie zum Einatmen. Eisige Kälte durchströmt sie. Ihre Fingerspitzen sind taub. Etwas raschelt, schnaubt und klingt so mächtig wie eine ganze Herde Wildpferde. Doch was da aus dem Unterholz hervortrabt ist kein Pferd, es ist auch kein Wolf.

Sophie reißt die Augen auf. Sie muss bis in die Baumwipfel schauen, als sich das mächtige Wesen aufrichtet. Das kann nicht sein! Sie will schreien, aber verstummt.

Sophie läuft. Schneller und schneller. Sie will sich nicht umsehen. Weiter zum Parkausgang. Das kann nicht sein! So etwas gibt es nicht! Sie erreicht die Straße. Niemand folgt ihr, doch sie kann nicht aufhören zu rennen. Sie atmet kurz, ihre Beine schmerzen. Die Hauptstraße ist zugeschneit. Schwerer Schnee stapelt sich im Rinnstein. Beinahe rutscht sie darauf aus. Egal! Weiter! Das im Park…Ein…!Ja? Was war es denn eigentlich? Nein! Das gibt es nicht. Das ist nicht real!

Die Straßen sind immer noch so leer wie in einer Eiswüste. Sie fummelt mit zitternden Händen den Hausschlüssel in die Eingangstür. Er fällt zu Boden. Sie hebt ihn hektisch auf und hält Inne. Dreht sich um. Schneegestöber wirbelt um ihre Füße und über den Gehweg.

Da ist niemand hinter dir her! Sophie! Beruhige dich! Sie sperrt die Türe auf. Um ganz sicher zu gehen schließt sie hinter sich ab. Dann muss sie sich am Treppengeländer festhalten. Sie atmet tief ein. Als sie sich einigermaßen sicher fühlt, wirft sie nochmal einen Blick durch die gläserne Eingangstür. Ein Schauer läuft ihr über den Rücken. Das was da draußen ist, sieht aus wie eine Geisterstadt. Die Stille ist so laut, dass es kaum auszuhalten scheint. Wo sind die ganzen Leute? Um diese Uhrzeit? Frau Yilgün müsste ihre Mädchen jetzt in den Kindergarten bringen und Herr Peters über ihr geht um diese Zeit immer joggen. Sie begegnet ihm jedes Mal wenn sie aus dem Park kommt. Und überhaupt, was war das da im Park?

Als Sophie wieder in ihrer Wohnung ist, versucht sie sich zu beruhigen. Sicher hat alles seinen Grund. Vielleicht ist Frau Yilgün schon früher los, wegen dem Schnee und Herr Peters ist wegen der Kälte bestimmt krank. Der geht ja immer joggen, egal bei welchem Wetter und immer in diesen dünnen Funktionsklamotten. So wird es sein. Und das Wesen im Park? Sie wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn. Das was sie gesehen hat ist nicht real. Nein. Das kann nicht sein!

Sie schaut im Fernseher nach den Nachrichten. Doch sie hat auf keinem Sender Empfang.

Dann schaltet Sophie das Radio an. Es startet den Suchdurchlauf. Ihr Sohn Felix hat ihr das digitale Gerät zum Siebzigsten Geburtstag geschenkt.

Sehr praktisch, hat er gesagt. Du kannst alle Sender speichern die du gern magst…

Sie bekommt den Impuls mit ihm zu sprechen. Warum weiß sie nicht so ganz. Sie ruft ihn an, um ihn zu fragen ob alles in Ordnung ist. Doch die Leitung ist tot. Mit zitternden Händen wählt sie Magdas Nummer. Ihre Tochter ist um diese Zeit beim Arbeiten, immer hat sie viel zu tun, aber sie versucht es trotzdem. Ohne Glück. 

„Was ist hier los, Karl?“, flüstert sie dem schicken Mann im Anzug auf dem eingerahmten Schwarz-weiß-Foto am Fensterbrett zu. Karl lächelt sie von dort aus mit warmen Augen an. Er würde sagen, dass das Wetter schuld ist. Die Telefonleitung irgendwo gerissen sei, wegen dem vielen Schnee. Bestimmt kümmert sich jemand darum. Für eine Sekunde fehlt ihr Mann ihr unendlich. Er wusste immer was zu tun ist und seine tiefe Stimme beruhigte sie. Bewahre Ruhe, Sophie.. Doch sie schiebt den Gedanken an ihn beiseite.  

Schaut durch die Fensterfront in der Küche. Schneegestöber über einer sonst sehr belebten Stadt. Sie sieht keine Autos und keine Menschen. Nur endloses Weiß. Der Park wirkt, als würde er zurück starren. Die schneebedeckten Baumkronen scheinen mit dem Boden und der Straße zu verschmelzen. Von dem Wesen keine Spur. Wie denn auch? Schließlich war es ja nur eine Einbildung! Es gibt ja schließlich keine…

Das Gerät meldet, dass eine Verbindung zum Internet nicht möglich ist. Sie holt ihren alten Radio aus dem Schlafzimmer, steckt ihn ein und schaltet ihn an. Zuerst vernimmt sie nur ein dumpfes Rauschen. Sie dreht an einem schwarzen Rädchen und versucht einen Sender zu finden. Mit Erfolg. Endlich kämpft sich eine weibliche Stimme durch das Rauschen. Sophie macht lauter. Bevor sie etwas versteht, klingelt es an der Haustür. Felix! denkt sie aus irgendeinem Grund und eilt zur Wohnungstür. Schnell kommt die Ernüchterung. Vor ihr steht Frau Krampe. Sie hält Sophie eine pinke Kinderjacke vor die Nase.

„Frau Kr….“

„Raten Sie mal wo ich das gefunden habe!“, beginnt sie sofort und drängt sich durch Sophies Haustür.

Sie presst ihren Kiefer zusammen. Die hat ihr jetzt gerade noch gefehlt. Aber anscheinend scheint sie der einzige Mensch hier zu sein. 

Jetzt steht Frau Krampe mit dem pinken Teil auf dem Arm mitten im Flur und Sophie ist sicher, dass sie gleich über irgendeinen Nachbarn her ziehen wird. Im Hintergrund spricht die weibliche Stimme weiter. Nur leider versteht Sophie nichts.

„Und?“, sagt Frau Krampe.

Sophie zieht die Schultern hoch. Im Moment kann sie nur an das Radio in der Küche denken.

„Na raten sie mal!“

„Ich weiß es nicht“, sagt Sophie, immer noch nur halb bei der Sache.

Endlich löst Frau Krampe das Rätsel: „Im Treppenhaus! Wo denn sonst.“

„Aha“, sagt Sophie.

Frau Krampe verschränkt triumphierend die Arme. „Ich sag´s ja.“

„Ja, das ist wirklich schrecklich. Leider habe ich grade zu tun…“

„Können Sie vielleicht das Radio leiser machen? Ich verstehe Sie ja kaum!“

Sophie atmet tief durch und geht in die Küche. Die schwerhörige Nachbarin verfolgt sie, stellt sich an das Fenster und guckt seitlich durch die Scheibe, als hätte sie Angst hinaus zu fallen. Zumindest versteht Sophie endlich etwas. Die Frau in den Nachrichten erzählt von Absperrungen außerhalb der Gefahrenzone. Noch sei unbekannt, was das seltsame Phänomen ausgelöst habe. Die Menschen werden aufgefordert die Stadt München nicht zu betreten. Sophie sieht Frau Krampe an. Die scheint mal wieder nichts zu verstehen und dreht die pinke Jacke in ihren Händen. Gerade will sie ansetzen, da fährt ihr Sophie über den Mund.

„Hören Sie zu!“ Sophie dreht lauter.

Frau Krampe guckt erst verdutzt, dann grimmig. Doch nach und nach verändert sich dieser Gesichtsausdruck. 

Ich widerhole. An alle Menschen die auf dem Weg nach München sind. Die Stadt sollte nicht betreten werden. Noch ist nicht bekannt was das Phänomen ausgelöst hat. Fast alle Bürger sind auf unerklärliche Weise verschwunden. Telefon und Internet sind ausgefallen. Straßenbahn und U-Bahn können wegen starkem Kälteeinbruch von über 35 Grad Minus nicht weiter fahren. Es ist noch nicht klar, ob es sich um einen Anschlag handelt. Die Bundeswehr kann nicht in den Stadtkern vordrängen, weil die gefrorenen Schneemassen die Straßen versperren. Wenn Sie das hören bleiben Sie bitte in ihren Wohnungen oder Häusern. 

Sie sehen sich schweigend an. Der erste Gedanke der Sophie kommt ist, warum ausgerechnet Frau Krampe zu denen zählt die nicht verschwunden sind. Dann fallen ihr Felix und Magda ein. Beide wohnen in München. Sofort greift sie nochmal nach dem Telefon, obwohl sie weiß, dass es nichts bringt und wählt Felix Nummer. Voller Verzweiflung denkt sie an Marie, seine Ehefrau und ihre kleine Enkelin. Vor kurzem hatten sie noch zusammen Weihnachten gefeiert. Doch es gibt nur ein Klicken in der Leitung. Sonst nichts. Sie legt das Telefon ab. Frau Krampe ist plötzlich so still. Das ist sehr ungewöhnlich, aber auch angenehm. Sophie mustert ihren fragenden, fast schon überforderten Gesichtsausdruck und ihr fällt ein, dass sie auch eine Tochter hat. Jedenfalls hat sie das einmal erzählt. Doch gesehen hat Sophie sie nie. Frau Krampe ist fünfzehn Jahre älter als sie und wohnt nebenan, seit dem Sophie mit Karl und ihren Kindern in dieses Haus gezogen ist.

Für einen Moment scheint Frau Krampe wie paralysiert. Dann erholt sie sich wieder. Sie hat die pinke Kinderjacke unter ihrem Arm und hebt den Zeigefinger.

„Jetzt ist das passiert was ich immer schon vorausgesagt habe.“

Sophie erinnert sich, dass Frau Krampe schon viel voraus gesagt hat. Auch heute.

„Die hätten die Katze nicht reinlassen sollen….“

„Welche Katze denn?“, fragt Sophie.

„Die war heute draußen vor dem Fenster…“

Wieder so eine Geschichte, denkt Sophie und spürt eine Ernüchterung, die aber sofort von etwas abgelöst wird, dass sich anfühlt wie eine Mischung aus Angst und ungläubigen Staunen. Dann hört sie ihr nicht mehr zu. Ihre ganze Aufmerksamkeit gehört der Bewegung die sie wahrnimmt, als sie kurz aus dem Fenster neben Frau Krampe sieht. Ein großer weißer Körper, etwas das aussieht wie ein Flügelschlagen, sich auch so anhört, für den Bruchteil einer Sekunde, direkt vor ihrer Fensterscheibe. Und dann ist es weg. Das Wesen aus dem Park! Kurz werden ihre Fingerspitzen taub. Es ist Richtung Dach geflogen! Auf ihr Dach! Direkt über ihr.

„Hallo? Hören Sie mir überhaupt zu?“ Frau Krampe holt sie aus ihrer Erstarrung. Sie muss etwas trinken. Es liegt bestimmt daran. Flüssigkeitsmangel hat der Arzt gesagt kann sehr schlimm für Körper und Geist sein. Ihr Verstand spielt ihr einen Streich. Es gibt keine andere Erklärung. Nein, nein, nein. 

„Nein, das kann nicht sein“, hört sie sich flüstern.

„Wie bitte?“

Sie erschrickt kurz, weil sie ihren Gedanken laut ausgesprochen hat. „Ich meine, das kann doch nicht sein!“, versucht sie zu retten und hofft, dass es zu dem passt was Frau Krampe als letztes gesagt hat. Im Normalfall tut es das.

Die schenkt ihr einen zustimmendes, fast überlegenes Lächeln. „Ich sag´s Ihnen ja. Alles Verbrecher!“

Sophie holt sich ein Wasserglas aus der Spüle, füllt es auf und trinkt in einem Zug. Es ist eiskalt und schmerzt im Hals. 

„Wollen Sie auch etwas?“, fragt sie.

Frau Krampe umarmt sich selbst. „Brr, nein. Dazu ist es mir zu kalt. Es ist aber auch eisig bei Ihnen!“

Sophie erinnert sich daran wie bitterkalt es im Park war. Als sie dieses Etwas gesehen hat. Ihre Finger waren mit Frost überzogen. Sie sieht auf das Thermostat das neben dem Fenster hängt. Es stimmt. In ihrer Wohnung ist die Temperatur gesunken. Sie liest: 12 Grad. Heute morgen hat es noch 20 Grad gehabt. Sophie checkt die Heizung neben Frau Krampe und stellt fest, dass sie funktioniert, nur die Wärme ist futsch. Als hätte sie jemand aus dem Raum gesaugt. Das muss mit diesem Wesen zu tun haben, denkt sie. Vielleicht sitzt es jetzt genau über ihnen. Auf dem Hausdach. Sie guckt unbewusst Richtung Decke, lauscht, aber die Mauern sind wahrscheinlich zu dick, um etwas zu hören. Krampe folgt ihrem Blick. 

„Sie sind heute aber komisch!“, sagt sie.

Sophie merkt es und erzwingt sich ein Lächeln. Frau Krampe hört nicht nur schlecht, sie hat auch Probleme sich Dinge zu merken, die gerade eben passiert sind. Außer wenn ein Nachbar etwas ihrer Meinung nach Falsches tut. Das vergisst sie nicht.

„Da haben Sie recht. Wissen Sie was? Ich sollte mich ein bisschen hinlegen. Und das sollten Sie vielleicht auch“, sagt Sophie. „Das alles macht Sie bestimmt sehr müde.“

„Meinen Sie?“

„Ja“, sagt sie mit sanfter Stimme und legt Frau Krampe ihre Hand auf den leicht gekrümmten Rücken, schiebt sie vorsichtig Richtung Haustür. Sie lässt sich antreiben. Mit mütterlicher Fürsorge wird sie ihre Nachbarin meistens los. „Ich bringe sie jetzt in Ihre Wohnung, da mache ich Ihnen eine Wärmflasche und einen Tee. Sie versuchen ein bisschen zu schlafen. Was halten Sie davon?“

Frau Krampe nickt. „Und was mache ich damit?“ Sie hält die Kinderjacke hoch.

„Das können Sie mir geben. Ich kümmere mich darum.“ Das sagt sie meistens, wenn ihre Nachbarin wieder mit neuen Kleidungsstücken anderer Leute auftaucht. Oft hat sie diese aus dem Kinderwagen geklaut oder Schuhe vom Flur mitgenommen. Das vergisst sie dann und behauptet, sie hätte sie im Treppenhaus gefunden. Sophie übergibt sie dann ihren Besitzern und erklärt ihnen die Lage. Sie hat jahrelang im Altersheim gearbeitet und kennt die Umstände. Deswegen kommt Frau Krampe auch zu ihr, wenn wieder etwas ist.

Die Wohnung riecht streng, als Sophie sie mit Frau Krampe betritt. Müllbeutel stapeln sich in der Küche und der Boden ist mit Zeitungen ausgelegt. Aber Sophie hat im Moment keine Zeit um aufzuräumen. Sie bringt die alte Dame in ihr Schlafzimmer. In Frau Krampes Wohnung macht Sophie das was Sie schon seit Jahren tut. Sich um alte Menschen kümmern. Sie bringt ihre Nachbarin ins Bett, macht ihr eine Wärmflasche und einen Hibiskustee, den sie besonders gern hat und verspricht nachher nach ihr zu schauen. Dafür hat sie einen Zweitschlüssel. Manchmal kommt sie vorbei um der alten Dame im Haushalt zu helfen, oder um ihr Essen vorbei zu bringen. Sie ist selbst nicht mehr die Jüngste, doch Sophie kann es nicht mitansehen wenn ältere Menschen von ihrer Familie im Stich gelassen werden oder keine Familie mehr haben. Einen Mann hat sie auch nicht. Selbst solche wie Frau Krampe brauchen dringend Menschen wie sie. Besonders in der Weihnachtszeit.

Sophie sitzt am Bettrand und streichelt ihr über die faltige Stirn, singt ihr ein altes Lied vor, dass sie von ihrer Mutter mit sechs Jahren das erste Mal gehört hat. Da beginnt die alte Dame immer zu lächeln. Sie weiß nicht, ob Frau Krampe das Lied auch kennt, aber sie weiß, dass es ihr immer beim Einschlafen hilft. Sie nuschelt noch irgendwas bevor sie friedlich eindöst. Bevor Sophie geht sieht sie sich um. Eigentlich hat Frau Krampe eine Putzhilfe die heute kommen sollte. Doch diese ist natürlich auch nicht da. Sophie verlässt ihre Wohnung.

Unschlüssig bleibt sie im Hausflur stehen. Dreht ihren Schlüsselbund zwischen den Fingern. Den Blick auf den letzten Treppenaufgang. Das gesamte Gebäude ist so ungewohnt still, dass es ihr Angst macht. Normalerweise hört man um diese Zeit bei Frau Schürmann, die mit ihrer Tochter Anna schräg gegenüber wohnt den Fernseher. Und das junge Paar daneben diskutiert Tag für Tag lautstark über verschiedene Dinge. Sie hört von draußen den Wind durch das Dachgeschoss pfeifen und Schneeflocken gegen die Fenster im Hausflur prasseln. Neben dem Zugang zum Dachboden, der immer extrem nach Lenor riecht, weil dort die Wäscheleinen hängen, gibt es einen Aufgang zum Flachdach des Gebäudes. Sie war noch nie dort und weiß deshalb nicht, ob der Zugang abgesperrt ist. Normalerweise sollte es so sein. Das hat sie sich jedenfalls früher immer gedacht, als Felix und Magda noch Kinder waren. Jetzt drängt sie irgendetwas dazu hinauf zu gehen und nach diesem Wesen zu schauen. Sie glaubt immer noch nicht, dass es real ist und erwartet deshalb nichts. Doch die Neugierde packt sie immer mehr. Sie ist fast stärker als die Angst. Wenn es real ist, dann hätte es ihr bestimmt schon längst etwas getan, wenn es das wollte. Und falls es tatsächlich existiert, dann ist es vielleicht auch schon weiter geflogen. Sie muss kurz über ihre Gedankengänge schmunzeln. Lächerlich, denkt sie. Wenn dich etwas nicht los lässt, dann beschäftige dich für eine Stunde damit, prüfe ob es stimmt und dann wird es dich in Ruhe lassen. Für Karl gab es für jedes Problem eine Lösung. Und Sophie weiß, es wird sie nicht los lassen. Sie muss unbedingt nachsehen.

Sophie drückt die schwarze Klinke nach unten und stemmt sich mit aller Kraft gegen die schwere Tür. Ein Windstoß bläst ihr über das Gesicht und sofort spürt sie Schneeflocken auf ihrer Haut schmelzen. Zuerst guckt sie vorsichtig durch den Türspalt und sieht ein Stück grauen Horizont, einen Teil des Flachdachs und den Sims. Ihre Hände zittern, das Herz pocht schnell und trotzdem ist ihre Neugierde stärker. Sie braucht sehr viel Kraft um die Türe ganz aufzuschieben und versucht dies so leise wie möglich zu tun. Doch es quietscht und ganz kurz verflucht Sophie den Hausmeister. Weil erstens nicht abgesperrt ist und zweitens die Einfassungen nicht geölt. Wie so vieles im Haus einfach in den letzten Jahren vernachlässigt wurde. Doch ohne diese Nachlässigkeit würde sie jetzt vor verschlossener Tür stehen.

Sie verweilt kurz in der offenen Dachgeschosstür und macht einen Schritt nach draußen. Der Wind ist bemerkenswert kalt. Sophie kann sich nicht daran erinnern, dass es jemals so frostig an Silvester gewesen ist. Sie umklammert ihren Mantel und zieht sich mit einer Hand die Kapuze über. Am Türrahmen über ihr hängen lange Eiszapfen. Sie muss sich ein wenig ducken, damit ihre Kleidung sich nicht verheddert. Vor ihren Augen tut sich gähnende Leere auf. Das schneebedeckte Flachdach. Hinter dem Sims scheint die Welt aufzuhören. Wie eine Wand verdecken schwere Wolken und weißes Gestöber die Sicht. Wo ist das Wesen aus dem Park? Sie dreht sich um und erschrickt kurz. Die Betonwände des Häuschens vom Dachaufgang sind mit einer dicken Schicht Eis überzogen. Es sieht aus wie in Sophies Gefrierfach. Ungläubig streckt sie die Hand danach aus und zieht ihren Finger sofort zurück. Das gleiche wie im Park passiert. Schockfrost. Es zwickt kurz. Reflexartig schüttelt sie ihre Finger und geht zwei Schritte zurück. Plötzlich nimmt sie eine Bewegung schräg hinter dem Häuschen wahr. Dann ein Geräusch, das wie ein Schmatzen klingt. Ihr Blick schweift über den Aufgang. Dann sieht sie zögernd daran vorbei. Doch um richtig zu erkennen was sie dort sieht muss sie um das Haus herum gehen. Langsam und mit wilden Puls zwingt sie sich voran und bleibt stocksteif stehen.

Sie blinzelt zweimal. Drache, Drache, Drache…wiederholt sich in ihrem Kopf. Ein Drache?!

Nochmal Blinzeln. Der Drache sitzt auf dem Sims am anderen Ende des Flachdachs. Ein Drache. Langsam lässt sie das Wort auf der Zunge zergehen und noch langsamer sickert es in ihren Verstand. Zusätzlich hängt sie das Adjektiv weiß daran. Ein weißer Drache. Innerlich lacht etwas über sie. Doch sie kann noch so oft blinzeln und das Wort durchkauen wie ein altes Stück Brot. Das Bild das sie vor sich hat, verändert sich nicht. Noch ein Fakt kommt dazu. Ein weißer Drache sitzt auf dem  Flachdach über ihrer Wohnung und isst. So wie Karl es manchmal zu seinen Fußball Abenden mit seinen Kollegen getan hat. Wenn die Schale mit den Erdnüssen auf dem Fernsehtisch stand und Sophie sich darüber beschwert hat, dass die Krümel überall verteilt sind, weil Karl sie sich nicht normal in den Mund steckte, sondern sie sich aus einiger Entfernung hinein warf.

Ein weißer, geflügelter Drache mit einem Körper so hoch wie die Kastanien im Park und so schwerfällig wirkend wie bei einem Bär mit Winterspeck. Er sitzt mit den Hinterbeinen auf dem Sims, seine Krallen, die Sophie an ihre besten und schärfsten Küchenmesser erinnern bohren sich dabei in den Stein. Mit beiden Vorderkrallen schält er eine Erdnuss und sieht dabei aus wie ein überdimensionales Eichhörnchen, das eine viel zu kleine Nuss bearbeitet. Dann wirft er den geschälten Kern in die Luft, öffnet sein riesiges Maul, gibt dabei eine Reihe mächtiger Zähne preis und fängt die Erdnuss mit der Zunge, die wie ein Peitschenhieb knallt als sie die Luft durchschlägt. Das sind die Nüsse die sie im Park verteilt hat! Er hat sie eingesammelt! Sophie weiß nicht was sie tun soll. Ein Teil von ihr möchte davon rennen und denkt, dass dieses Ungeheuer bestimmt auch Menschenfleisch mag und die Erdnuss sowas wie gar nichts ist, ja noch nicht einmal eine Vorspeise für dieses Monster. Doch etwas lässt sie verweilen. Die Flügelhaut wirkt leicht transparent und sonst ist alles an ihm mit Fell überzogen, das vom Wind durchwühlt wird und Sophie an einen Schneehasen erinnert. Sein Gesicht stimmt nicht mit denen überein die sie aus Märchenbüchern kennt. Es scheint beinahe süß, ja fast so wie ein Teddybär. Sie lächelt kurz. Dann rülpst der Drache. So laut, dass man es selbst in den Alpen noch hören könnte. Es hallt von den umstehenden Hauswänden und die Schneeflocken vor seinem Maul wirbeln durcheinander. Dann schmatzt er, seufzt und beginnt die nächste Nuss zu schälen. Das hilft ihr sich wieder zu fangen. Sie merkt wie ihr Verstand zurück kommt und spürt wie sich ihre Hände zu Fäusten ballen, wie sich ihr Körper darauf vorbereitet zu flüchten. Niedlich und flauschig bedeutet nicht gleich freundlich. Er könnte dich mit einem Habs aufessen, ermahnt sie sich. Noch hat er Sophie nicht bemerkt. Wie naiv muss man sein! Jetzt ganz vorsichtig. Sie geht zwei Schritte rückwärts und lässt den Drachen nicht aus den Augen. Ihr Herz pocht stark. Sie atmet nicht. Der Drache schmatzt genüsslich. Kurz guckt er Richtung Horizont. Die großen löffelförmigen Ohren zucken zur Seite, dann legt er sie an. Er ist so beschäftigt wie eine Hase mit einer Karotte und wirft eine Nuss nach der anderen in die Luft.

Sophie geht weiter rückwärts. Ist sich sicher, dass sie es schaffen kann unbemerkt zu verschwinden. Ganz langsam. Nur keine hastigen Bewegungen, nur nicht atmen, nicht auffallen, nicht …

„Was machen sie denn da?!“, ruft jemand hinter hier. Es ist Frau Krampes Stimme.

Sie zuckt zusammen. Der Drache auch. Er stellt die Löffel auf, sein Kopf schießt nach oben und es dauert nur den Bruchteil einer Sekunde bis er sie gesehen hat! Frau Krampe muss aufgewacht sein und die offene Tür entdeckt haben. Er richtet sich auf. Wirkt überrascht. Sophie atmet hektisch, dreht sich um. Frau Krampe steht im Nachthemd neben der Tür und starrt mit weit geöffneten Mund an Sophie vorbei.

„Ja um Gottes Willen!“, ruft sie.

Sie sieht ihn also auch. Schnell weg! Doch bevor sie etwas zu Frau Krampe sagen kann, bückt sich diese und beginnt einen Schneeball zu formen. Sie wirft und trifft den Drachen am Kopf. Oh Nein!

„Verschwinde du Saufiech!“, zischt sie den Drachen an. Der bleibt verdutzt sitzen, in der einen Kralle die Nüsse, die anderen am Sims. Dann schüttelt er sich den Schnee aus dem Fell.

„Halt!“, ruft Sophie. Doch Frau Krampe hat noch einen Schneeball gebaut und wirft ihn munter von sich, trifft einen Flügel. Das pelzige Monster schnaubt. Seine Miene schwindet von überrascht zu leicht verärgert. Sophie will Frau Krampe am liebsten stehen lassen und einfach laufen. Doch sie kann das nicht. Noch ein Schneeball fliegt.

„Verschwinde!“

Diesmal lässt der Drache vor Schreck die Nüsse über den Sims fallen. Verzweifelt sieht er ihnen nach wie sie im Nichts verschwinden. Wütend dreht er seinen Kopf in Richtung Frau Krampe. Die guckt genauso wütend zurück. Die Spannbreite seiner Flügel verdeckt den Himmel. Dann holt er Luft. Jetzt bekommt Sophie richtig Panik. Drachen speien Feuer! Sie löst sich aus ihrer Erstarrung, dreht sich um, greift nach Frau Kampes Hand. Gegen ihre Kapuze drückt etwas, dass sich anfühlt wie ein kräftiger Sturm. Dann wird es für kurze Zeit beängstigend still. Ein Schmerz zieht sich durch ihre Hand, an der sie eben noch die von Frau Krampe gespürt hat. Reflexartig lässt sie los. Dann der nächste Schock. Frau Krampe bewegt sich nicht mehr. Sie ist zu einer Eisskulptur erstarrt.

Sophie kann nicht ganz begreifen was hier gerade passiert ist. Wie in einem Sog gefangen steht sie neben ihrer tief gefrorenen Nachbarin und weiß nicht ob sie schreien, weg laufen oder umkippen soll. Sie fühlt ihren Körper nicht mehr, nur wie der Boden vibriert, als der Drache vom Sims hüpft und sie herausfordernd ansieht während er auf Sophie zugeht. Die Ohren angelegt, die Nüstern aufgeblasen. Kurz vor ihr hält er Inne und beugt sein Gesicht zu ihrem hinunter. Sie fühlt seinen Atem auf ihrer Haut. Ihre Gliedmaßen verkrampfen sich. Sie macht die Augen zu. Als sie diese wieder öffnet, weil weiter nichts passiert, sieht sie wie der Drache Frau Krampe beschnuppert. Will er sie jetzt essen? Er dreht ihr den Kopf zu, öffnet den Mund. Oh Nein!

„Ist diese Dame immer so?“, fragt er. Fragt er!? Er spricht! Das ist zu viel für Sophie. Ihr wird schwarz vor Augen.

„Hallo, geht es Ihnen gut?“

Sophie kämpft mit den Augenlidern. Weißes Licht blendet sie als sie es schafft die Augen offen zu halten. Kurz weiß sie nicht wo sie ist. Was war passiert? Ist das der Tod?

Etwas greift unter ihren Arm und hilft ihr hoch. Sie friert und kann nicht gestorben sein. Sie erinnert sich an einen weißen Drachen. Was für ein wirrer Traum.

„Wie geht es Ihnen?“, sagt die Stimme die sie eben schonmal gehört hat.

„Ich …. habe geträumt… glaube ich.“

„Ja das kenne ich“, antwortet die Stimme.

Sophie hält sich den Kopf und langsam begreift sie ihre Umgebung wieder. „Da war ein Drache…“, sagt sie und plötzlich stellt sie fest, dass sie auf dem Dach des Wohnhauses sitzt.

„Tja das war kein Traum.“

Schlagartig fühlt sich Sophie hellwach und springt auf. Kein Traum. Neben ihr steht die gefrostete Frau Krampe. Vor ihr der Drache mit dem weißen Teddy-Gesicht.

„Langsam!“, sagt das weiße, überdimensionale Kaninchen mit Flügeln. „Sonst fallen Sie wieder um.“

Sophie schwankt und versucht sich die Situation zu erklären. Hat sie womöglich eine Krise? Ihre Schwiegertochter Maria die in einer Psychiatrie arbeitet erzählte mal von Psychosen die plötzlich auftreten können.

„Ich verstehe das nicht…“, flüstert Sophie sich selbst zu und versucht den Drachen nicht anzusehen.

„Ich auch nicht. Normalerweise dürften Sie gar nicht hier sein. Und die auch nicht!“ Er deutet mit dem Kopf auf Frau Krampe. „Das muss an der Katze liegen.“

„Katze?“, fragt Sophie und ihr wird erst jetzt bewusst dass der Drache sie Siezt. Immerhin eine höfliche Psychose. Frau Krampe hat von einer Katze erzählt, fällt ihr ein.

„Ja sie ist zu früh!“, sagt der Drache. „Und sie ist verschwunden. Das ist nicht gut.“

Sophie glaubt selbst nicht, dass sie weiter nachhakt. „Welche Katze und warum ist was nicht gut?“

Der Drache erzählt als würde er sich mit Sophie bei einer Tasse Kaffee unterhalten:

„Na schön…. Die Neujahrskatze kommt eigentlich erst nach Silvester und bringt euch das Neue Jahr…. Wir sind zusammen los…und dann war da dieser Komet und ich lege ihr nahe, dass wir umkehren müssen, aber die Katze wollte das nicht geschehen lassen und hat das Schlimmste verhindert… und jetzt finde ich sie nicht mehr was ziemlich unvorteilhaft ist, weil dann der Schnee auch nicht weg geht und das Neue Jahr nicht kommen kann!“

Sophie fühlt wie ihr Mund leicht offen steht. Sie glaubt nicht was der Drache da erzählt und denkt daran dass Marie gesagt hat: Man muss manchmal auf die wirren Fantasien von Betroffenen mit Psychose eingehen und Fragen stellen, damit die sich nicht alleine fühlen. Weil kein anderer da ist muss Sophie auf sich selbst eingehen. Vielleicht verschwindet die Psychose dann, denkt sie und sagt:

„Wieso sind Sie… zu früh?“

„Wir wollten uns das Feuerwerk von oben ansehen.“

„Aha. Von Oben?“

„Ja. Vom Weltall. Das sieht immer richtig toll aus.“

„Und wer sind Sie?“

„Ach entschuldigen Sie. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin der Winterdrache.“

„Aha. Wieso dürfte ich und Frau Krampe nicht hier sein?“

„Wenn die Neujahrskatze kommt verschwinden die Menschen für einen Augenblick, damit sie ihre Arbeit machen kann. Das bekommt ihr Menschen in der Regel nicht mit.“

Sophie weiß nicht mehr was sie sagen soll. Am liebsten würde sie sich einweisen lassen. Am Ball bleiben. Weiter darauf eingehen. Es wird bald besser. Der Drache redet munter weiter.

„Machen Sie sich keine Sorgen um Ihre wütenden Freundin hier. Das ist nur vorübergehend. Sie wird bald wieder auftauen und keinen Schaden davon tragen. Sobald ich diese Katze gefunden habe.“

„Sie hat eine Katze gesehen“, sagt Sophie und deutet auf Frau Krampe.

„Wirklich?“

„Ich denke schon. Vor ein paar Stunden.“

„Sie ist am Leben!“, triumphiert der Drache laut und Sophie erschrickt kurz.

„War sie verletzt?“, fragt er weiter.

„Das weiß ich nicht.“

„Offensichtlich“, sagt er nachdenklich. „Sonst wäre das Chaos hier nicht. Ich muss sie finden. Wenn sie schwer verletzt ist und vielleicht stirbt, dann können die Menschen nicht zurück kommen. Wissen Sie, ich kann der Katze helfen, ich kann sie heilen.“

Sophie fasst sich an die Stirn. Es funktioniert nicht so recht mit dem darauf eingehen. Warum geht diese Halluzination nicht weg?

„Hey hören Sie mal. Ich kenne mich hier nicht aus. Bin eigentlich noch nie irgendwo auf der Erde gestrandet. Wissen Sie das ist auch alles neu für mich. Aber da Ihnen ja die Katze den Planeten gerettet hat könnten Sie mir doch bei der Suche helfen. Wenn Sie schon hier sind…“

„Ich bin nicht die einzige. Es ist nur in München. Ich habe vorhin die Nachrichten angehört. Außerhalb der Stadt gibt es bestimmt bessere Hilfe für Sie. Da gibt es zum Beispiel die Bundeswehr. Ich weiß nicht wie ich Ihnen dabei helfen könnte“, sagt Sophie und fühlt sich sehr schwach.

„Es passiert zeitversetzt. Wenn Sie jetzt diese Nachrichten anhören, dann hören Sie bestimmt nichts mehr.“

Sophie schwankt wieder. Das stimmt alles nicht.

„Sie sind ja ganz blass. Vielleicht sollten Sie etwas trinken und diese Nachrichten nochmal hören. Dann kommen Sie zurück und sagen mir ob ich recht habe. Wenn ich recht habe wissen Sie das alles stimmt. Dann können Sie mir helfen“, schlägt der Drache vor.

Sophie hält sich am Türstock fest und nickt langsam.

„Ach und wenn Sie so freundlich wären. Diese Nüsse waren deliziös. Wenn Sie davon noch ein paar hätten…dann wäre das großartig.“

Sophie dreht sich um und geht zurück in ihre Wohnung. Es ist immer noch totenstill und jetzt erst fühlt sie die Kälte wieder. Wie paralysiert stellt sie das Radio an und startet den Sendersuchlauf. Aber das Radio findet nichts. Ungläubig starrt sie minutenlang aus dem Fenster. Fallender Schnee und Stille. Kein Vogel, kein Auto, keine Menschenseele. Nur sie und der Drache. Langsam begreift sie: Das ist real. Ich bin nicht verrückt. Flehend schaut sie Karl auf dem Schwarz-weiß Foto an. „Hilf mir“, flüstert sie und spürt ein Brennen in ihren Augen. „Ich wünschte du wärst hier.“

Beschäftige dich damit Sophie. Hab keine Angst. Es wird schon.

Tränen rollen über ihre Wangen. Sie macht sich Sorgen. Um ihre Enkel, um ihre Kinder. Wo sind sie nur alle?

Weinen hilft dir nicht, würde Karl jetzt sagen. Du kannst traurig sein. Aber du musst handeln. Sonst wird es nicht besser. Atme tief durch und du wirst sehen. Du darfst dich nicht überwältigen lassen.

Sophie versucht sich zu sammeln. Sie atmet tief ein und aus. Irgendwann geht es ihr besser. Sie denkt an ihre Panikattacken die sie früher oft gehabt hat. Die aus dem Nichts auftauchten und wieder verschwanden. Sie schließt die Augen, atmet noch ein letztes Mal kräftig durch. Dann öffnet sie diese wieder und stellt fest dass das was gerade passiert real ist, das da eine Katze ihren Planeten gerettet hat und ein Drache ihre Hilfe braucht sonst würde sie ihre Familie nie wieder sehen. Obwohl ein Teil von ihr sich immer noch frägt ob sie vielleicht doch eine Krise haben könnte, beschließt Sophie etwas zu unternehmen.

Sophie steht auf und holt einen neuen Behälter mit Nüssen. Sie zieht sich etwas wärmeres an. Die Wanderschuhe die sie seit Jahren nicht benutzt hat, eine Thermohose und einen dicken Pulli. Darüber eine feste Winterjacke von Karl die er immer zu seinen Eisangel-Ausflügen dabei gehabt hat. Ihr Karl war ein Abenteurer gewesen, sie die ängstliche Frau die zu Hause gewartet hat, sich Sorgen gemacht hat. Das sie eines Tages ihr gewohntes Umfeld auf solche Art und Weise verlassen muss hat sie nicht gedacht. Sie hat immer noch Angst, aber es hilft nichts. Als sie alles beisammen hat, einen Rucksack mit den Nüssen, einer Flasche Wasser, einer Landkarte und Keksen für sich gepackt hat hält sie einen Moment Inne. Dann geht sie ins Bad und nimmt noch eine Notfalltasche mit Verbänden, Pflaster und Schmerzmittel mit. Für alle Fälle. Denn diese Katze ist ja wahrscheinlich verletzt.

Auf dem Dach zurück findet Sophie den Drachen schlafend auf dem Rücken. Sie geht vorsichtig auf ihn zu und sagt:

„Ich bin soweit.“

Sie bekommt einen lauten Schnarcher als Antwort und sagt nochmal lauter:

„Ich bin wieder hier!“ Dann stupst sie ihn an. Der Drache schreckt hoch. Er schüttelt sich und steht dann auf allen Vieren.

Er gähnt. „Ach da sind Sie ja. Ich hab Sie gar nicht erkannt unter all dem Stoff. Dann kann es ja los gehen… Haben Sie die Nüsse dabei?“ Sophie nickt und gibt ihm die geöffnete Dose. Nachdem er sie alle samt verschlungen hat, stapft er Richtung Horizont. Sophie braucht einen Moment bis sie versteht. Ein Drache bewegt sich auf eine ganze bestimmte Art fort. Nämlich in der Luft. Ihr stockt der Atem und sie denkt an ihre Höhenangst. Der Drache dreht sich um als er merkt, dass sie ihm nicht folgt.

„Was ist? Warum kommen Sie nicht?“

„Ich kann nicht fliegen“, stottert sie.

Der Drache zieht eine buschige Augenbraue nach oben. „Sagen Sie das doch gleich.“ Er bückt sich. Der gewaltige Körper sinkt zu Boden, er senkt die Flügel. Sophie versteht die Einladung und zögert.

„Keine Sorge. Ich fliege besser als die Katze. Da passiert nichts.“

Die Katze fliegt? Sophie wundert das nicht mehr. Atmen Sophie. Sie presst die Lippen zusammen und fasst sich allen Mut. Das ist alles so verrückt. Wann kann man schon mit einem Drachen fliegen? würde Karl sagen.

Sie sieht nochmal zu Frau Krampe. „Und sie kann wirklich hier bleiben?“

„Ganz ehrlich, ihr wird es wieder gut gehen.“

„Na gut“, sagt Sophie und klettert auf den Drachen. Sie muss sich ein bisschen anstrengen um auf den Rücken zu kommen.

„Sie können sich gern festhalten“, sagt der Drache.

Zögerlich greift Sophie in das weiße und weiche Fell. Es ist so zart wie das einer Baby-Katze. Sie spürt ihre Finger dabei zittern. Schließlich zieht sie sich auf dem Rücken und lässt das Fell nicht los.

„Können wir?“, fragt er.

„Ich denke ja.“

Ohne zu zögern nimmt der Drache Anlauf. Sophie spürt die holprigen Bewegungen unter ihrem Gesäß. Der Drache erhöht die Geschwindigkeit zügig und läuft auf den Sims zu. Vor Sophie tut sich die gesamte Stadt auf. Sie hält die Luft an, als der Drache sich vom Boden abstößt, die Flügel in der gesamten Spannweite ausbreitet. Er lässt das Dach hinter sich. Sophies Magen macht einen Satz. Sie schließt die Augen. Und spürt den Wind im Gesicht. Dann traut sie sich sie wieder zu öffnen. Da ist kein Holpern mehr. Der Drache gleitet sanft durch die Luft, schwebt über die Frauenkirche und die Häusergruppen, über die schneebedeckte Landschaft. Plötzlich fühlt sich Sophie sicher. Die Angst wird abgelöst durch ein Lächeln das sich über ihren Mund zieht. Was für ein Gefühl! Es scheint als hat ihr der Drache die ganze Angst und Skepsis einfach genommen. Er fliegt Schleifen, segelt ab und zu, geht ein wenig abwärts, dann wieder aufwärts. Als würden sie von einer lieblichen und leichten Melodie getragen. Siehst du mich Karl? Denkt Sophie. Siehst du das? Ich hole unsere Kinder zurück. Am liebsten würde sie ihre Arme ausbreiten.

„Noch eine Frage“, sagt der Drache und holt Sophie aus ihrer Euphorie. „Wo denken Sie könnte eine Katze auf diesen Planten hin fliegen oder gehen? Sie ist ein bisschen kleiner als ich, aber geht mir bis zur Schulter.“

Sophie denkt an die Katzen aus der Nachbarschaft. Aber das ist keine normale Katze. „Naja hier haben die Katzen ein Zu Hause, wissen Sie. Aber Sie sagten ja, das sie verletzt ist. Normalerweise verstecken sich normale Katzen die verletzt sind. Sie kennen sie ja am besten. Wo denken Sie könnte sie hin gegangen sein?“

„So gut kenne ich sie nicht.“

„Wie kann das sein? Sie waren doch zusammen unterwegs.“

„Naja wir lernten uns gerade kennen, wissen Sie? Es ist nicht leicht jemanden kennen zu lernen. Schon gar nicht im Weltall. Normalerweise treffen sich Neujahrskatzen und Winterdrachen nicht. Oder die Regenhunde und die Nachtraben. Eigentlich macht immer jeder seine Arbeit. Aber man fühlt sich einsam, wissen Sie.“

Sophie überlegt kurz. „Dann hatten Sie ein Date mit der Katze?“

„Was ist ein Date?“

„Das … nicht so wichtig. Gibt es denn irgendetwas das sie Ihnen erzählt hat? Was sie gerne mag.“

„Sie mag Fisch.“

„Natürlich“, sagt Sophie. „Meinen Sie, dass sie etwas zu essen sucht?“

„Wenn sie geschwächt ist kann das möglich sein. Wenn es mir nicht gut geht und ich Hunger habe dann verlasse ich mich auf meine Nase. Deswegen habe ich auch die Nüsse gefunden die sie verstreut haben.“

„Ich weiß wo es viele Fische gibt“, sagt Sophie. „Vielleicht ist sie dort.“

Sophie versucht sich von oben zu orientieren. In München kennt sie sich gut aus, schließlich wohnt sie schon ihr ganzes Leben hier. Sie braucht ein paar Sekunden und entdeckt trotz dem vielen Schnee einen Anhaltspunkt. Sie entdeckt das unübersehbare Netz des Olympiastadions mit dem spitzen Turm, das nicht weit von ihrer Wohnung entfernt ist. Das Gebäude guckt aus dem inzwischen meterhohen Schnee hervor. Dort gibt es das größte Aquarium der ganzen Stadt. Sie navigiert den Drachen dort hin.

Der Drache landet auf einem Hügel in der Nähe des Eingangs von Sealive. Er lässt Sophie absteigen. Dann fällt es ihr ein.

„Sind denn überhaupt Fische dort? Die Raben aus dem Park… sie waren verschwunden als ich sie füttern wollte. Sind nicht alle Tiere verschwunden?“

„Das ist bestimmt so. Aber der Geruch kann noch da sein“, antwortet der Drache. „Ich selbst kann es auch schon riechen.“

„Dann können Sie die Katze nicht riechen?“

„Sie meinen so wie ein Spürhund?“

Sophie nickt.

„Nein das klappt leider nicht.“

„Sie wissen nicht was ein Date ist, aber was ein Spürhund ist schon?“

„Das Weltall hat viele Spürhunde. Es braucht diese für die große Jagd.“

Sophie stutzt einen Moment. „Das Weltall?“

„Ja, wissen Sie, es lebt. So wie alles andere auch. Nur eben nicht auf dieselbe Art und Weise wie ich oder wie Sie es tun würden.“

„Und was für eine große Jagd soll das sein?“

„Das kann ich Ihnen nicht erklären. Ihr menschlicher Verstand würde es nicht verstehen.“

Sophie sieht hinüber zu dem Gebäude in dem Menschen große Aquarien gebaut haben um Fische zu präsentieren. Sie mag solche Orte nicht. Tiere, so denkt sie, sind nicht auf dem Planeten um die Menschheit zu belustigen. Doch jetzt ist es ihr lieber sie würde dort irgendetwas finden. Der Drache klang nicht arrogant, als er sagte, dass sie die große Jagd nicht verstehen würde. Er hat gesagt, das Weltall würde leben, so wie sie, nur anders. Das versteht Sophie irgendwie. 

„Versuchen Sie es. Vielleicht verstehe ich es ja doch.“

„Es ist zu früh dafür. Außerdem werden Sie es vergessen sobald ich fort bin.“

„Aber ich verstehe doch auch schon, dass es Sie gibt. Und die Neujahrskatze. Ich bin kein gläubiger Mensch, aber wenn ich das was ich sehe glauben kann, vielleicht verstehe ich es ja doch?“

Der Drache wendet sich ihr zu und plötzlich ist sein Blick dramatisch.

„Mit Verlaub meine liebe Menschen-Freundin, das was Sie sehen ist nicht immer das was es wirklich ist.“

Sophie spürt den eisigen Wind an ihrem Gesicht. Sie muss ihre Zehen bewegen um diese warm zu halten. Er will es also nicht erzählen. Was meint er damit, dass es nicht das ist was sie sieht? Sie hat sein Fell berührt, seinen Atem gespürt, sie ist mit ihm geflogen, sie hat gesehen wie Frau Krampe tiefgefroren wurde. Kann sie ihn etwa nur als Drache sehen, weil ihr Verstand ihr nichts anderes erlaubt? Er würde ihr wahrscheinlich keine Antwort geben. Sophie will trotzdem noch eine Frage stellen.

„Wenn das Universum lebt, ist es dann so eine Art Gott?“

„Wie gesagt, es ist zu früh um das zu erklären. Ich weiß nicht was ein Gott sein soll, aber ich weiß dass die Erde beschützt wird.“

„Ich kann mich also an das hier nicht erinnern wenn Sie fort sind?“

„Tut mir leid. Nein. Aber Sie werden es in sich tragen. Unabhängig davon ob Sie es erinnern oder nicht. So wie das Universum alles Leben in sich trägt.“

„Sie sagen, dass die Katze die Erde vor einem Kometen gerettet hat?“

„Ja so ist es. Sie hat all ihre Kraft dafür gebraucht.“

„Na dann los. Worauf warten wir noch?“, sagt Sophie und geht voran. Sie kommt nur mühsam durch den tiefen Schnee. Der Drache folgt ihr den Hügel hinunter. Dann stehen sie auf dem Platz des Olympiaparks. Ein paar Meter entfernt liegt der verwaiste Eingang von Sealive.

Die Türe lässt sich mit Sophies Kraft nicht öffnen. Sie ist mit einer dicken Eisschicht überzogen und der Drache sagt Sophie dass sie ein paar Schritte zurück treten soll. Sie tut es und der Drache holt tief Luft. Dann stößt er einen Feuerstrahl gegen das Eis. Es schmilzt langsam und irgendwann ist sie vollkommen befreit. Sophie versucht es nochmal und sie lässt sich öffnen. Nichts als Dunkelheit und ein eiskalter Luftzug schwappt ihnen entgegen.

„Feuer können Sie also auch speien?“, sagt Sophie.

„Ich kann alles speien“, sagt der Drache. „Es ist so finster, es könnte glatt ein schwarzes Loch sein“, fügt er hinzu.

„Wir brauchen Licht“, sagt Sophie. Sie zeigt auf einen Baum der hinter ihnen steht.

„Den Ast dort oben…Können Sie den vielleicht runter holen?“

Der Drache nickt und bricht den Ast ab. Sophie zieht ihren Schal aus und wickelt ihn um das obere Ende.

„Das wird so nicht klappen. Wir brauchen so eine Art Wachs, damit es länger brennt, oder Stroh …“

„Wir nehmen mein Fell und ich kann alles schmelzen was wir brauchen“, sagt der Drache. Sophie sammelt einen großen Stein vom Boden.

„Auch den hier“, fragt sie.

Der Drache reißt sich einen großen Büschel Fell vom Rücken und platziert es um den Schal.

„Alles. Sie müssen einen Schritt zurück treten. Es wird sehr heiß“, bestätigt er und bläst einen Schwall Feuer über die Konstruktion. Aus dem Stein wird Lava das mit dem Stoff und dem Fell zu einer leuchtenden kugelartigen Flamme verschmilzt. Sophie kommt für einen Moment aus dem Staunen nicht heraus.

Mit der Fackel gehen sie los. Erst durch endlos scheinende Gänge die so hoch sind dass der Drache sich nicht bücken muss. Plötzlich scheint Ihnen ein rotes Licht entgegen zu blinken. Sophie geht tapfer darauf zu. Sie muss sich zusammen nehmen, denn die Dunkelheit macht ihr eigentlich Angst. Das Licht wird stärker und bald kann Sophie Umrisse des Raumes erkennen in dem sie sich befinden. Eine riesige Halle. Das Bild wird klarer und ein großes Aquarium wird sichtbar das über ihren Köpfen zusammen läuft. Das rote Licht kommt von den Notstromlampen die die Gänge markieren. Doch hinter dem Panzeracrylglas ist kein Wasser. Es ist Eis.

„Es … ist alles eingefroren“, staunt Sophie und hält die Fackel nach oben.

„Hier ist der Fischgeruch am stärksten“, bemerkt der Drache und schnuppert in die Luft. „Vielleicht wären Sie so freundlich und leuchten in die Ecken? Vielleicht ist dort die Katze?“

„Natürlich“, sagt Sophie und beginnt den Raum zu erkunden. Doch es ist niemand hier. Sophie beleuchtet einen weiteren Gang. Der Drache folgt ihr unaufgefordert in den nächsten Raum. Die roten Lichter blinken im Takt. Die Fackel ist schwach. Sie wird ständig vom Zugwind angeblasen.

Sophie bleibt plötzlich stehen.

„Haben Sie das gehört? Ein Scharren, oder ein Schnurren!“

„Ja es kam aus dieser Ecke dort!“, sagt der Drache und zeigt in die Dunkelheit.

Sophie geht mit der Fackel darauf zu. Und tatsächlich. Ein zusammengekauertes Bündel liegt dort im Dunkeln und scharrt mit den Füßen hilfesuchend um sich.

„Katze!“, ruft der Drache und stürmt auf das Bündel zu. Sophie versucht ihm soviel Licht zu spenden wie möglich.

„Drache!“, krächzt das Bündel. „Es tut mir leid dass wir uns verloren haben.“

„Das muss Ihnen nicht leid tun. Sie haben einen Planeten gerettet.“

„Sie blutet“, stellt Sophie fest als das Licht auf eine Blutlache fällt und eine tiefe Wunde im Bauch der Katze beleuchtet.

„Oh nein …“, sagt der Drache.

„Ich werde sterben“, sagt die Katze.

„Nein, das werde ich verhindern“, sagt der Drache und richtet sich auf um seine Kralle sanft auf den Bauch der Katze zu legen. „Ich werde die Wunde mit meiner Magie heilen.“

„Es ist zu spät“, sagt die Katze.

Sophie hält die Luft an. Noch nie hat sie so ein Wesen gesehen. Sie kann es nicht richtig beschreiben. Eine Welle von Mitgefühl überfällt sie. Es ist warm und gleichzeitig schmerzt es unheimlich. Noch nie hat sie so etwas Schönes gesehen.

„Sie stirbt“, flüstert sie voller Ehrfurcht.

„Sie wird nicht sterben!“, ruft der Drache und beginnt etwas zu flüstern. Ein blaues Licht geht durch seinen Körper, wird zu einer rotierenden Kugel und schwebt über ihren Köpfen. Sophie schaut staunend zu. Die Katze krümmt sich. Die blaue Kugel explodiert und tausend Lichter fallen auf den verletzen Körper und scheint ihn vollkommen zu durchströmen. Nach ein paar Sekunden verpufft das Licht jedoch und die Katze versucht sich aufzurichten. Sie stöhnt und fällt zu Boden.

„Oh nein, nein nein nein!“, sagt der Drache keuchend. Er versucht das Gleiche noch einmal, aber wieder fällt die Katze erschöpft zu Boden. 

„Was sollen wir tun?“, fragt Sophie und fühlt sich endlos hilflos. Sie hat Angst um die Katze, aber am Meisten um ihre Familie.

„Sie können nichts tun. Ich bin der Einzige der es kann!“

„Drache…“, sagt die Katze. „Sie wissen was zu tun ist. Sie wissen das der Mensch uns helfen kann. Sie wissen es…“

Der Drache wirkt verärgert und erschrocken. Sein weißes Fell glänzt im Feuerschein. Anscheinend will er es nochmal versuchen. „Das wird nicht nötig sein…“

Die Katze streckt ihre Pfote nach seiner Kralle aus. „Ihr verbraucht zu viel Energie. Bitte…“ Sie sieht ihn flehend an.

„Ich kann helfen?“, fragt Sophie. „Wie?“

„Nein das geht nicht“, wehrt der Drache erneut ab.

„Bitte. Lassen Sie mich helfen!“

Der Drache wirkt plötzlich besinnlich ruhig und nachdenklich. Er sieht die Katze an. Die nickt ihm mit letzter Kraft aufmunternd zu.

„Sie werden Ihre Familie nie wieder sehen. Es wird Ihr größtes Opfer sein. Und eine große Verantwortung.“ Seine Stimme klingt tief und traurig, gleichzeitig liegt etwas heiliges darin.

Sophie wird innerlich still. „Was ist es?“

„Es wird Sie alles kosten was Sie haben. Ihre Welt, ihre Erinnerungen. Aber Sie werden nur so ihre Familie retten. Die Menschen können nur so wieder kommen.“

Der Drache sieht Sophie ernst an und zeigt auf die sterbende Katze. „Wenn Sie helfen wollen, müssen Sie ihren Körper annehmen und ihre Kraft. Ihr Körper braucht eine neue Seele, eine gute und reine Seele. Deswegen werden Sie alles was Sie kennen vergessen.“

Sophie muss die Worte des Drachen erst verarbeiten. Sie atmet kaum. „Alles? Auch meine Familie?“

„Auch ihre Familie. Sie können sie nicht mehr sehen. Dafür bekommen Sie einen neuen Körper, eine Aufgabe und die Fähigkeit zu fliegen.“

Sophie braucht einen Moment. Sie würde ihre Familie nie wieder sehen. Aber sie wären wieder zurück in ihrem Zu Hause und würden ihr Leben weiterleben. Sie würden existieren, nur ohne sie, aber sie wären wieder dort wo sie hingehören. Und nicht nur ihre Familie wäre wieder am Leben, die ganze Erde würde wieder belebt, die Tiere, die Pflanzen, die Menschen. Sophie fühlt sich plötzlich ganz klein.

„Woher wissen Sie dass ich das kann?“, fragt sie unsicher.

„Sie haben mich gefunden“, sagt die Katze leise. „Es ist nicht leicht mich zu finden.“

„Das stimmt“, bestätigt der Drache. „Sie haben nicht lange gebraucht. Als hätten Sie es schon immer gewusst.“

Sophie erinnert sich an den Flug mit dem Drachen. Das plötzliche Vertrauen in sich und die Überzeugung dass die Katze hier gestrandet ist. So etwas kennt Sophie nicht von sich selbst. Als wäre da etwas passiert, etwas das mit diesem Drachen zu tun hat. Ihr Leben lang war Sophie für andere da. Eine Gabe die nicht jeder hat, hat Karl oft gesagt.

„Karl“, flüstert sie. Doch weder der Drache noch die Katze hört es. Wann hat man denn mal die Chance die Welt zu retten? würde er jetzt sagen.

„Verzeihen Sie, wir haben nicht mehr viel Zeit“, sagt der Drache. „Es muss geschehen bevor die Katze stirbt.“

„Das ist keine leichte Entscheidung“, sagt Sophie.

„Das ist uns klar“, sagt der Drache. „Egal wie es ausgeht, es wird so kommen wie es kommen soll. Aber es muss einen Grund geben warum Sie noch hier sind und sonst kein anderer. Hören Sie, Sie werden nicht nur ein großes Opfer bringen. Sie werden einige Geheimnisse des Universums erfahren, Sie werden zu fremden Welten reisen. Das neue Jahr ist nicht die einzige Aufgabe der Katze.“

„Es gibt noch andere Welten?“

„Tausende“, sagt die Katze mit schwacher Stimme. „Sie sind wunderschön und voller Abenteuer.“

„Sie werden die Chance auf einen Neubeginn haben. Dafür müssen Sie alles hinter sich lassen.“

Sophie spürt Tränen in ihre Augen steigen. Eine Woge von Angst und gleichzeitiger Liebe durchfährt sie. Und ihr wird klar, egal was sie nun tut, sie wird ihre Familie nicht wieder sehen. So gesehen weiß sie schon längst was zu tun ist.

„Wie ist es dort wo ich hin gehen werde? Sie sagten dass nichts so ist wie ich es sehe.“

„Wenn Sie es sehen werden Sie es verstehen. Sie brauchen keine Angst zu haben.“

Die Katze krümmt sich wieder vor Schmerzen. Der Drache sieht Sophie flehend an. „Bitte, wir müssen beginnen.“

Keine Angst Sophie, sagt Karl in ihren Gedanken. Ich werde dich vergessen, denkt Sophie. Es verhallt im Nichts, denn der Drache sieht sie auffordernd und freundlich an. Die Katze atmet schwer und hebt eine Tatze. „Legen Sie ihre Hand in die Mitte“, sagt sie zu Sophie. Sophie gehorcht. Obwohl die Angst ihr fasst das Bewusstsein raubt. Die Tatze landet auf ihrer Hand. Der Drache legt seine Pranke darauf ab. „Schließen Sie am besten die Augen.“

„Tut es weh?“, fragt Sophie.

„Oh nein, aber es wird sehr hell. Sind Sie bereit?“

Sophie presst die Lider zusammen. Ist sie es? Sie weiß es nicht. Kann man das überhaupt? Für so etwas bereit sein? Versuche es als einen Neuanfang zu sehen. Lasse das Alte hinter dir. War es nicht das was das neue Jahr für die Menschen ausmacht? Das Gefühl dass sich etwas verändern muss oder kann? Letztendlich hat Sophie nie das Gefühl gehabt es hätte sich etwas verändert. Egal wie viele Jahre verstrichen. Das hier ist auf jeden Fall eine Veränderung. Eine Chance und ein großer Verlust. So wie Liebe und Hass nah beieinander existieren, Trauer und Freude, oder ein Planet voller Leben in einem Universum das lebensfeindlicher nicht sein kann. War es das wirklich? Ein Feind? All das spielt keine Rolle mehr. Sophie hat keine Wahl. Sie muss ihre Familie retten. Nur dieser Gedanke zählt jetzt. Das wird ihr plötzlich klar.

„Ich bin bereit“, hört sie sich sagen. Als wäre sie nicht wirklich hier. Kaum hat sie es ausgesprochen, spürt sie einen Sog der sie hoch in den Raum zieht. Sie hört wie der Drache und die Katze leise vor sich hin murmeln. Ein Mantra oder ein Gebet, ein Zauberspruch … was auch immer es ist, es nimmt ihr gänzlich die Furcht. Plötzlich ist da nichts als Raum. Sie öffnet die Augen und sieht das ihr Körper noch auf dem Boden kniet. Sophie sieht nicht erstaunt auf ihn herab. Eine unaussprechliche Logik. Dann dreht sie sich, oder dreht sich der Raum? Sophie weiß es nicht so genau. Sie dreht sich ohne das ihr schwindlig wird. Steigt nochmal höher. Es ist nicht unangenehm und fühlt sich endlos an. Doch dann kommt der Körper der Katze auf sie zu, entfernt sich wieder und dreht sich selbst während er sich auch um Sophie dreht. Wie zwei tanzenden Monde umkreisen sie ein merkwürdiges Licht, das heller und heller wird. Ein lautloser Knall. Dann ist es nur noch weiß und still.

Als das Wesen erwacht weiß es nicht sofort wo es sich befindet. Es muss sich langsam aufraffen. Das weiße Licht rund herum schwindet und geht über in ein Schwarz. Dann stellt es fest, dass es in einer Art Kugel liegt. Es versucht sich mit allen Sinnen zurecht zu finden und streckt die Glieder nach der umschließenden Hülle aus. Drückt gegen die schwarze Wand die elastisch nachgibt. Noch kann das Wesen in der Dunkelheit nichts ausmachen. Es weiß nur, dass es nach draußen muss. Mit aller Kraft durchstößt es schließlich das Material. Es zerbricht wie die Schale eines Vogeleis.

Das Wesen schwebt im Draußen, im Licht aus tausenden strahlenden Sternen. Es braucht nicht lange bis es ihm wieder einfällt wo es sich befindet. Ein weiteres schwarzes Ei gleitet an dem Wesen vorbei und als es sich genau umsieht entdeckt es noch mehrere runde Kugeln die durch das Weltall streunen. Einige brechen auf, Schwestern und Brüder schlüpfen hinaus, und das Wesen weiß dass alle bereit sind ihre Arbeit zu tun. Sie machen sich auf in ihre Welten. Unendlicher Frieden geht mit ihnen.

Vor dem Wesen tut sich die riesige blaue Erdkugel auf. Freude durchströmt es wie ein Kometensturm. Und auch ein wenig Wehmut, ein fremd erscheinendes Gefühl und das Wesen weiß nicht genau woher das kommen mag. Es weiß nur dass es an der Zeit ist, das neue Jahr zu verkünden.

Ich wünsche euch allen ein wunderbares und magisches neues Jahr! Auf das ihr auch so mutig hinein startet wie Sophie.