Überlegungen zu einem Lieblingsbuch
Kennt Ihr das auch? Du verleihst dein Lieblingsbuch, und auf einmal ist es, als ob dir etwas fehlte. Zu sagen, es wäre so, wie wenn man ein Körperglied verlöre, wäre maßlos übertrieben und außerdem reichlich geschmacklos. Aber es ist auch nicht einfach so, als ob ein beliebiger Gegenstand plötzlich nicht mehr da wäre. Es ist mehr. Es ist schrecklicher. Es ist, als ob du nicht mehr ruhig schlafen dürftest, als ob du immer ein wenig kurzatmig wärst und nicht ganz glücklich.
Totem. Das ist es wohl. Das Totem hat das Haus verlassen und ein Stück deiner Seele mitgenommen. Bis du es wiederbekommst, kann dir nicht ganz und gar behaglich sein. Unheimlich ist das, so ohne Totem, ohne Lieblingsbuch. Kennt Ihr das auch?
Das Sakrament
Mir ging das so mit einem Roman von Clive Barker: Sacrament, in der englischen Originalausgabe. Die deutsche Version heißt fast genauso, nur eben auf Deutsch (ich betone das so, weil das bei Buchtiteln ja nicht gerade üblich ist). Ich verlieh das Buch an eine Freundin und wurde nicht mehr richtig froh. Nicht nur war da eine Lücke in meinem Bücherregal – die war schnell wieder zugestellt. So bin ich eben. Nein, es fehlte ein Stück in meinem Heim. Etwas, das ich kannte auf jene Art und Weise, wie man nur Geschichten, Menschen und Orte kennen kann, war nicht mehr da. Etwas, das sich in meine Seele geätzt hatte. Und in diesem Fall meine ich ‚geätzt‘, wie ich es schreibe. Benutze eine Metapher nur dann, wenn du sie ernst meinst.
Clive Barker schreibt nicht immer schön. Oh, er schreibt ästhetisch, aber nicht immer schön. Ein brillanter Fantasy-Autor, ist er doch ganz besonders im Horror zu Hause und leiht sich von dort Bilder, die verstören und dich nicht loslassen. Dabei mag ihm nutzen, dass er auch Maler, Grafiker und Filmemacher ist. Hellraiser (1987) ist sein großer Wurf als Regisseur und Drehbuchautor, der in seiner ganzen Bild- und Verstörungskraft Kultstatus erreichte. Der Roman dazu stellt einem die Nackenhaare auf.
Der Horror
Barker schreibt über Dämonen, die dir, Leser, ins Gesicht schauen, die dich ansprechen – nicht metaphorisch – und deine Reaktion mit einer Präzision vorhersagen, die dich über deine Schulter blicken lässt (Fahr zur Hölle, Mr. B., 2014). Dämonen, die deshalb so schrecklich sind, weil sie so menschlich sind. Die dir so unendlich leidtun, weil sie in der Hölle, aus der sie gekrochen sind, nie eine Chance hatten und sich so verzweifelt und verquer in ihre Mitdämonen verlieben, dass sie ihre Seele verlieren würden, hätten sie nur eine.
Barkers großes Fantasy-Epos Imagica habe ich dreimal angefangen und nie ausgelesen. Nicht weil es schlecht wäre. Sondern weil es so schön und so erschütternd ist, dass ich es nie bis zum Schluss aushalte. Bis jetzt war es mir noch immer zu gewaltig. Zu unerträglich. Wir werden sehen, wann ich mich ein viertes Mal daran wage.
Die Tür
Und dann ist da Das Sakrament. 1996 geschrieben, erzählt es die Geschichte eines Fotografen, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, vom Aussterben bedrohte Tierarten zu dokumentieren. Am Beginn des Romans liegt er gerade im nördlichen Kanada auf der Lauer und wartet auf einen riesigen Eisbären, der des Nachts kommt, um auf der Müllhalde der Siedlung nach Fressbarem zu wühlen. 1996. Aber das nur am Rande.
„He Stands Before An Unopened Door“, lautet der Titel dieses ersten Teils im englischen Original. Diese ungeöffnete Tür verschließt Will den Zugang zu sich selbst, aber das weiß er nicht. Sie verschließt ihm auch den Zugang zu seiner Vergangenheit, zu einer seltsamen, verstörenden – und da ist es wieder, dieses Wort – Episode aus seiner Kindheit, die er verdrängt hat. Erst die Begegnung mit dem Eisbären und dessen Leid holt sie wieder an die Oberfläche.
Die Liebe
„He Dreams He Is Loved“, steht über dem zweiten Teil der Geschichte. Will erinnert sich an seine Vergangenheit, als er als Halbwüchsiger in einem alten, verlassen Haus Rosa und Jacob begegnete. Ein bizarres Paar, ein Mann und eine Frau, die Mann und Frau nur zu spielen scheinen und Will doch Dinge über sich selbst erfahren lassen, die er vorher nicht wusste.
Es ist Rosa, die ihn fasziniert. Rosa, die in allen Facetten von Frau zu schimmern scheint und doch nicht zu greifen ist und die, als der erwachsene Will sie schließlich wiedertrifft, mit Transvestiten und trans Frauen durch den Orient zieht. Doch es ist Jacob, den er liebt, und später, in der Erinnerung, begehrt. Jacob, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, das letzte Exemplar jeder aussterbenden Tierart zu finden und zu töten. Jacob, der den unhinterfragten Mann zu Rosas unentwegt fragender Frau gibt und zu dessen Mannsein der Ekel und die Verachtung von Wills Liebe und Wills ganzer Existenz genauso gehört wie das Töten.
Der Fremde
Dass Will schwul ist, darum geht es in dem Roman auch, immer. Aber es ist nicht der Kern der Geschichte. Der Pol, um den sich alles dreht, ist das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zur Natur, die ihn umgibt und die er nicht versteht. „He Meets The Stranger In His Skin“ und „He Enters The House Of The World“ heißen andere Teile der Geschichte. Wills Homosexualität ist Teil seiner selbst, und darum ist sie auch Teil seiner Geschichte. Jacob kann das nicht akzeptieren. Jacob kann gar nichts akzeptieren, weil er nichts versteht, nichts verstehen kann und nichts verstehen will, weil er meint, alles zu verstehen. Rosa, die nichts versteht und das weiß, will alles verstehen, aber sie hat nie gelernt, mehr zu sein als die Frau zu Jacobs Mann, selbst wenn sie etwas anderes glaubt.
Jacob und Rosa sind Archetypen ihrer selbst. Man könnte auch Stereotypen sagen. Aber das ist Absicht. Warum, verrate ich an dieser Stelle nicht. Ihr Verhalten ist so verstörend und beängstigend, weil es so vertraut ist. Will muss sich diesen Archetypen stellen, die ihn einst, als Junge, so fasziniert und so geprägt haben. Und er muss sie hinter sich lassen. Auf dem Weg zu sich selbst, auf dem Weg zu-sich-selbst-in-der-Natur sind sie notwendig, aber nicht zielführend.
Das Lieblingsbuch
Letzten Endes weiß ich nicht, warum sich dieses Buch in meine Seele geätzt hat. Sind es Rosa und Jacob in all ihrem archetypischen Mann-und-Frau-Sein, das sein ganz eigener Horror ist? Ist es die pulsierende Natur, deren Glieder absterben, von Jacob getötet und von Will dokumentiert, und die sich am Ende doch nicht dadurch definieren, beschreiben, greifen lässt? Oder ist es Will? Will, dessen Selbstsuche eine queere ist, aber vor allem eine menschliche? Will, der ein Mann unserer Zeit ist und vielleicht Quintessenz unserer Zeit. Will, der der Natur ins Gesicht blickt und nicht sich selbst sieht, aber am Ende auch nichts Fremdes.
Ich weiß es nicht. Aber ich gebe dieses Buch nie wieder her.