Der große, böse Wolf

Der große, böse Wolf

8. September 2019 1 Von Sinakaii Cheops

Oftmals, wenn ich durch Augsburgs Fußgängerzone flaniere, werde ich von den Passanten erkannt und angesprochen.

Erst gestern wieder stoppte mich ein vielleicht achtjähriges, blondes Mädchen.

„Hallo Sinakaii“, rief es begeistert, „toll, dass ich dich hier treffe. Ich wollte dir schon immer sagen, dass ich von der außerordentlichen Qualität deines literarischen Werkes zutiefst beeindruckt bin.“

Ich räusperte mich verlegen.

„Aus meiner Sicht“, fuhr es fort, „bist du der bedeutendste Literat des 21. Jahrhunderts, die noch lebenden Literatur-Nobelpreisträger inbegriffen.“

„Das ist nett“, antwortete ich.

„Du kannst Humor und wie du in deinem Blog vom 7. Juli bewiesen hast, kannst du auch Frauenroman. Warum schreibst du nicht mal Kindergeschichten?“, fragte mich das kleine blonde Mädchen.

„Kindermund tut Wahrheit kund“. In diesem Satz steckt unendlich viel Weisheit. Deshalb habe ich mich entschieden, im heutigen Blog eine Gute-Nacht-Geschichte für achtjährige, blonde Mädchen zu veröffentlichen. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Begebenheiten ist unbeabsichtigt und reiner Zufall.

Der große, böse Wolf

Es war einmal vor langer, langer Zeit, da lebte in einem weit, weit entfernten Königreich ein kleines, etwa achtjähriges Mädchen. Es stand mit seinem Körbchen am Waldesrand. Im Körbchen hatte es fein ordentlich eine Flasche preiswerten Rotweins vom Lidl und einen in Plastikfolie verschweißten Marmorkuchen, auch vom Lidl, auch preiswert, arrangiert. Es wollte heute seine kranke Großmutter im Wald besuchen und ihr eine Freude machen. Ihr blonder Haarschopf wurde von keinem roten Käppchen gebändigt. Dafür trug es aber rote Stiefelchen. Diese roten Stiefelchen trug sie an jeden einzelnen Tag im Jahr, sie waren schon von weitem gut zu erkennen, weshalb die Leute sie schon aus der Ferne „Bettina“ riefen. Ein letztes Mal blickte sie sich zum Waldparkplatz um, winkte ihrer Mutter zu und lief los. Es folgte dem schmalen Pfad in den Wald. Kaum hatte sie die erste Biegung hinter sich, da sprang auch schon ein großer böser Wolf hinter einem dunklen Baum hervor.

„Huch“, rief das kleine Mädchen erschrocken, „bist du der große, böse Wolf?“

„Ja logisch“, antwortete der Wolf, „oder glaubst du verdammt noch mal, dass sich irgendjemand anderes stundenlang hinter einem Baum verstecken würde, inmitten eines verdammten Feldes von Brennnesseln, und das alles nur um dir aufzulauern?“

„Wahrscheinlich nicht“, antwortete das Mädchen.

„Natürlich nicht!“, bestätigte der Wolf.

„Und weißt du was ich jetzt machen werde?“, fragte er das Mädchen.

Ohne auf die Antwort zu warten fuhr er fort: „Jetzt renne ich zum Haus deiner Großmutter, fresse sie, lege mich in ihr Bett und wenn du reinkommst, dann reiße ich dir den Kopf ab.“

Kaum ausgesprochen, sprang der Wolf los und war im Unterholz verschwunden.

„Meine Mama sagt immer, dass man dem großen, bösen Wolf nicht trauen darf. Der lügt.“, dachte sich das kleine Mädchen und setzte seinen Weg unbeirrt fort. Rechts und links des Weges pflückte es Blumen, winkte den Schmetterlingen zu und verbrachte die eine und andere Stunde damit, den Fröschen im Bach zuzusehen. Erst spät am Abend erreichte es schließlich das Haus der Großmutter. Es gruselte sie und sie hatte Bedenken einzutreten, denn schon bei ihren letzten Besuch war die Toilette verstopft und Großmutter war zu geizig, den Klempner zu holen. Trotzdem klopfte es artig an die Tür.

„Herein, herein“, ertönte eine kratzige Stimme von drinnen.

„Großmutter, bist du das?“, rief sie durch die Tür.

„Ja logisch“, antwortete die Stimme genervt, „oder glaubst du verdammt noch mal, dass sich irgendjemand anderes stundenlang in ein Bett legen würde, inmitten eines verdammten Hauses in dem es so stinkt, als wäre der Abfluss schon seit Wochen verstopft? Und das alles nur um dich zu sehen?“

„Wahrscheinlich nicht“, antwortete das Mädchen.

„Natürlich nicht!“, bestätigte die Stimme, „und jetzt komm endlich rein, mir ist von dem Gestank schon ganz schlecht“.

Das kleine Mädchen öffnete die Tür und ging zum Bett ihrer Großmutter.

„Oh Großmutter! Oh Großmutter, warum hast du so rot lackierte Fingernägel?“

„Das ist kein Nagellack, das ist Blut.“

„Oh Großmutter! Oh Großmutter, warum hast du so große Zähne?“

„Das sind keine Zähne, das sind Knochensplitter.“

„Oh Großmutter! Oh Großmutter, warum hast du so ein großes Maul?“

„Damit ich dich besser fressen kann“, rief der Wolf, sprang aus dem Bett und riss dem kleinen Mädchen den Kopf ab.

Und wenn der große, böse Wolf nicht gestorben ist, dann lebt er noch heute!

 

Und die Moral von der Geschicht:

„Manchmal lügt der Wolf halt nicht!“

 

Gute Nacht mein Engelchen – träum was Schönes