Shakespeare und äh … ich
Was war das Besondere an William Shakespeare? Und kann das irgendetwas mit mir zu tun haben? Schon kurz nach Shakespeares Tod 1616 kamen seine engen Freunde, die seine Texte herausgegeben hatten, zu dem Schluss, dass er der größte Dichter seines Landes und seiner Zeit war. Sie waren überzeugt, dass er die Autoren, deren Werke er als Quellen für seine Dramen und Gedichte verwendete, weit übertroffen hatte. Uneinig waren sie darüber, ob er in seine Texte viel Arbeit stecken musste, oder ob bereits der erste Entwurf bühnenreif war.
Denn Shakespeare hat sich die Geschichten bzw. den Plot seiner Werke nicht selbst ausgedacht, sondern hat diese seinen Quellen entnommen. Für seine Römerdramen hat er die Lebensbeschreibungen großer Griechen und Römer des antiken Biographen Plutarch (er lebte von etwa 45 bis etwa 125) als Vorlage genommen. Shakespeares Drama Julius Cäsar beruht auf Plutarchs Leben des Cäsar bzw. einer englischen Übersetzung. Diese Art zu schreiben war damals üblich. Schon in der Schule hatte der junge Shakespeare gelernt, antike Texte zu variieren.
Das Besondere an Shakespeare ist, wie er den Stoff und seine Vorlagen bearbeitete. Seine Versionen gelten im Allgemeinen als lebendiger, eleganter und prägnanter als die Originale. Ein herausragendes Beispiel dafür ist Marcus Antonius‘ Leichenrede für Cäsar in dem Drama Julius Cäsar. Mit seiner Rede überzeugt Antonius die Bürger Roms, dass Cäsar zu Unrecht ermordet wurde. Zuvor hatte der Cäsarmörder Brutus die Tat als Tyrannenmord gerechtfertigt.
Die Rede ist ein Meisterwerk der Rhetorik! Ganz besonders kunstvoll ist die Wiederholung eines Motivs, durch das Antonius die Menge auf seine Seite zieht: „Doch Brutus sagt, daß er voll Herrschsucht war. Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann.“ Als ich selbst in den historischen Quellen nachsah war meine Enttäuschung groß. Die antiken Autoren betonen zwar, dass Antonius’ Rede die Menschen berührte. Auch was er inhaltlich sagte ist in Teilen bekannt, aber der exakte Wortlaut ist nicht überliefert. Shakespeare hat seine eigene Version komponiert. Lest sie!
Zu Shakespeares Zeit und noch für weitere zweihundert Jahre galt es als große Leistung, bestehende Texte als Grundlage für eigene Werke zu verwenden und zu veredeln. Erst mit der Zeit der Romantik veränderte sich diese Sichtweise. Fortan galt der Dichter als vorbildlich, der sich ohne direkte Vorlage eine eigene Geschichte ausdachte; der sozusagen aus sich selbst heraus schrieb. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern schrieben die romantischen Dichter über sich und ihre persönlichen Gefühle .
Was hat das nun mit mir und meinen Texten zu tun? In meinen beiden historischen Romanen erzähle ich die fiktive Geschichte einer fiktiven Hauptfigur. Diese Geschichte soll einerseits möglichst spannend sein und eine saubere Dramaturgie besitzen, andererseits aber so exakt wie möglich in die realen historischen Ereignisse eingeflochten werden. Historische Persönlichkeiten treten als (wichtige) Nebenfiguren auf, der historische Hintergrund ist gründlich recherchiert. Um das Innenleben meiner Figuren zu zeigen, greife ich wie jeder Autor auf meine persönlichen Erfahrungen zurück. Natürlich habe ich nie als Legionär gekämpft, aber den Mut, mich Herausforderungen zu stellen, brauche ich auch.
Mit der Titelgeschichte meiner jüngst als E-Book veröffentlichten Geschichtensammlung Der Ring des Römers wandele ich gewissermaßen auf Shakespeares Spuren; auch wenn ich mich darin etwas verloren fühle. Die Hauptfigur Titus Manlius ist nicht fiktiv, sondern eine historischen Persönlichkeit. Das ist ein kleiner, aber nicht unwichtiger Unterschied. Für die Geschichte über Titus‘ Leben (und seine Tragik) habe ich die Berichte der antiken Quellen direkt als Vorlage benützt. Wie Shakespeare hielt ich mich aber auch nicht sklavisch an die Quellen, sondern wandelte Dinge ab, wenn es mir dramaturgisch geboten schien. Und natürlich habe ich versucht, mich in die Gefühlswelt meiner Hauptfigur hineinzuversetzen, auch wenn dies gerad im Finale der Geschichte kaum möglich war. So etwas wie Titus möchte ich auf keinen Fall erleben – und es geht nicht um eine Schlacht.
Auch bei drei anderen Geschichten der Sammlung habe ich historische Persönlichkeiten als Hauptfiguren verwendet. Allerdings gab es da nur eine kurze Notiz der Quellen als Ideengeber. Nach jeder Geschichte habe ich ein kurzes Nachwort angefügt, das den historischen Hintergrund erläutert und darlegt, wo und warum ich mir dichterische Freiheiten genommen habe. Grundlage für die Geschichte des Titus Manlius sind die Berichte des römischen Historikers Livius.
Ob es mir gelungen ist, die Geschichte von Livius zu veredeln, könnt ihr selbst überprüfen. Das E-Book gibt es bei Amazon. Bis ich es veröffentlichen konnte, musste ich es gefühlt tausendmal überarbeiten. Das habe ich übrigens mit Shakespeare gemeinsam, der für viele Menschen der größte Dichter aller Zeiten ist. Auch er musste seine Werke vor der Veröffentlichung mit Sicherheit mehrfach überarbeiten, bis sie bühnenreif waren.
Ein herzlicher Dank an die Shakespeare-Expertin Sabine!