Die Reisegesellschaft: Meine Geschichte in „Old Shatterhand – Neue Abenteuer“
Neue Abenteuer, alte Helden, unerwartete Heldinnen
Immer wieder mache ich einen Ausflug ins Mayversum. Anders gesagt: in die Abenteuerwelten, die Karl May vor über 100 Jahren mit seinen Reiseerzählungen geschaffen hat. Doch wo ich sonst einen eher forschenden Blick in diese Welten werfe und mir Nscho-tisch und ihre Schwestern oder Moderne Helden näher anschaue, habe ich mit „Die Reisegesellschaft“ die Gelegenheit erhalten, selbst in diesem großen Sandkasten zu spielen.
In „Old Shatterhand – Neue Abenteuer“ finden sich Weiter-, Neuerzählungen und Ganz-Anders-Erzählungen der Wild-West-Geschichten Karl Mays. Eine Reihe kreativer und Karl-May-begeisterter Autoren und Autorinnen hat sich zusammengefunden, um mit altvertrauten Figuren neue Geschichten zu spinnen. So treffen die Blutsbrüder Winnetou und Old Shatterhand in meinem Fragment „Die Reisegesellschaft“ auf ein sehr ungewöhnliches Schwesternpaar, das sich, obwohl nicht mehr ganz jung, in das Land westlich der Großen Seen aufgemacht hat, um einen indianischen Weisen zu finden. Wer und wo dieser sein soll – das wissen sie nicht so genau. Vermutlich noch nicht einmal wirklich, warum sie ihn suchen.
Begleitet werden die Schwestern Richardson von einem bunt zusammengewürfelten Treck aus einem englischen Lord samt Leibdiener, einem japanischen Waldläufer, einem deutschen Scout namens Pfefferle, hoffnungsfrohen Utopisten, einer resoluten Fuhrmännin, New Yorker Businessmen samt Eherfrauen – und irgendwo dazwischen verbirgt sich ein Schlangenölfverkäufer, der die Reisegesellschaft auf vermutlich finstere Pfade führt …
Eine Hommage und noch viel mehr
„Old Shatterhand – Neue Abenteuer“ bietet neben vertrautem Karl-May-Flair auch Fantastisches, Kriminalistisches und so manches Gedankenspiel. Auf alle Fälle eint uns Autorinnen und Autoren eine Liebe fürs Geschichtenerzählen und für diesen ganz besonderen Geschichtenerzähler. Die Anthologie eröffnet nicht zuletzt die Gelegenheit, Winnetou und Old Shatterhand aus den Augen verschiedener Leser*innen und Erzähler*innen wahrzunehmen – und so vielleicht auch in den alten Geschichten neue Facetten zu entdecken.
Old Shatterhand – Neue Abenteuer ist im Karl-May-Verlag, Bamberg, erschienen. Mit Geschichten von: Lennardt M. Arndt, Katrin Ebel, Jutta Laroche, Katharina Maier, Jacqueline Montemurri, Alexander Röder
Nadine Schmenger, Peter Wayand
Seiten: 448; Umschlag: Hardcover (laminierter Pappband mit Gold-Veredelung); Auch als Sonderausgabe in felsgrauem Leinen und grünem Leinen erhältlich.
ISBN: 978-3-7802-0578-0; Preis: 26,- €
Sneak Peak: „Die Reisegesellschaft“
Die Sonne hatte sich schon über den Horizont geschoben, als Miss Lavinia die überhängende Plane zur Seite schlug und aus dem Wagen kletterte. Das buttergelbe Licht verfing sich in den Blättern der Bäume, deren Ränder begannen, an Grün zu verlieren. So viel Zeit hatten sie nicht mehr. Lavinia zog sich ihr breites Tuch aus dunkelblauer Wolle enger um die Schultern, in das sie sich die Nacht über eingewickelt hatte. Sie hatte heute länger geschlafen als sonst. Vielleicht gewöhnte sie sich allmählich an den unbequemen Planwagen, selbst wenn ihre Knochen nicht mehr so jung waren wie einst. Sie setzte die solide Sohle ihres Stiefels auf das Trittbrett am hinteren Ende des Wagens und landete dann mit Schwung auf dem felsigen Untergrund, der nur mit einer dünnen Schicht Erdboden bedeckt war. Es staubte. Der Sommer war zu trocken gewesen.
Das dumpfe Geräusch, mit dem sie auf dem Boden aufgekommen war, erregte die Aufmerksamkeit der wenigen, die schon munter waren. Der Rest der Gruppe schlummerte noch in den jeweiligen Planwagen, ließ wertvolles Tageslicht verstreichen. Lavinia presste kurz die Lippen aufeinander. Mr. Pepper ließ den feinen Herrschaften zu viel durchgehen; sie bezahlten den Scout, um ans Ziel zu kommen, nicht für eine Vergnügungsfahrt. Allerdings war Mr. Pepper selbst noch nirgendwo zu sehen, hatte sich entweder nach seiner späten Nachtwache noch einmal aufs Ohr gelegt oder war in den frühen Morgenstunden aufgebrochen, um Fleisch zu machen. Miss Lavinia hoffte stark auf das Letztere; andernfalls würde sie bald die Geduld mit dem Scout verlieren, wenn nicht heute, dann mit Sicherheit morgen oder am Tag darauf. Dass sie auch niemanden von den Fuhrleuten ausmachen konnte, sprach jedoch für die Jagd und gegen eine verlängerte Morgenruhe. Gut.
Energischen Schrittes hielt Lavinia auf den grasigen Uferstreifen und das seichte, aber klare Flüsschen zu, das zusammen mit dem Bogen der Planwagen einen unregelmäßigen Halbmond bildete. Ihr Weg führte sie am Lagerfeuer vorbei, wo ihre Schwester einen großen Topf Haferbrei mit Wasser und etwas Butter anrührte. Normalerweise hätte Lavinia selbst diese Aufgabe übernommen, aber heute war Emmy ungewöhnlicherweise früher wach geworden.
Neben Emmy saß der junge deutsche Journalist, der sich der Reisegesellschaft in der letzten Siedlung angeschlossen hatte, und befreite einen Korb voll Blaubeeren von Resten grüner Stängel. Lavinia traute ihm nicht; sein Erscheinen war zu plötzlich und zu unerklärt, sein Grund, sich ihrer Gruppe zuzugesellen, viel zu maßgeschneidert. Emmy schien die Bedenken ihrer jüngeren und klügeren Schwester allerdings nicht zu teilen. Leise redete sie auf den Journalisten ein, während sie in ihrem Haferbrei rührte; entweder kritisierte sie sanft seine Beerenreinigungskünste oder sie dichtete Verse auf das Blau der farbintensiven Früchte. Bei Emmy war beides etwa gleich wahrscheinlich.
Ein wenig abseits der zwei, aber nicht weit genug, um abweisend zu wirken, hockte Mr. Katsuo mit dem Gewicht auf den nackten Fußsohlen verteilt. Schweigend trank er seinen Tee; er brühte ihn sich jeden Morgen in einer speziellen Kanne mit Seitengriff, die er Kyūsu nannte. Bisher hatte nur Emmy von dem angebotenen Tee gekostet – und nun, wie es schien, der junge Deutsche, neben dem eine von Mr. Katsuos irdenen Teetassen stand. Lavinia für ihren Teil hatte Mr. Katsuo nicht um seine kostbaren Blätter bringen wollen, aber nun überlegte sie, ob ihre Rücksichtnahme dem Waldläufer nicht eher wie eine Ablehnung erschienen war.
Beide Männer grüßten wohlerzogen, als Miss Lavinia am Feuer vorbeimarschierte. Sie seufzte unterdrückt, als sie das Lächeln des jungen Journalisten auffing. Mr. Charley war entweder ein Greenhorn in seinem Beruf oder er führte etwas im Schilde. Es gab nur ein Problem mit ihrem Misstrauen dem Jungen gegenüber: Er hatte die freundlichsten Augen, die sie je in ihrem Leben gesehen hatte.
Mehr über Lavinia, Emmy, Katsuo-san und natürlich Mr. Charley in Old Shatterhand – Neue Abenteuer!