Die Schlacht von Marathon, ein Bote und andere Läufer. Legende und Wahrheit
Sein Atem ging schwer, die Oberschenkelmuskeln zitterten vor Anstrengung. Mit letzter Kraft erreichte der Läufer sein Ziel, einen schmucklosen Rundbau am Marktplatz von Athen. Der Schweiß lief ihm unter seinem schweren bronzenen Helm in die Augen, so dass er kaum die Männer erkennen konnte, die dort voller Sorge um das Schicksal ihrer Armee versammelt waren und auf die erlösende Nachricht warteten: „Seid gegrüßt! Wir haben gesiegt!“ („Chairete! Nenikekamen!“). Nach diesen Worten brach er zusammen und starb entkräftet noch im selben Moment.
Auf diese Weise, so der Schriftsteller Plutarch, sollen die Athener vom Sieg ihres Heeres über eine persische Invasionsarmee erfahren haben. Dies geschah im September des Jahres 490 v. u. Z. bei Marathon, einer Ebene rund 40 Kilometer nordöstlich der Stadt. Anschließend soll ein Soldat die Nachricht vom Sieg nach Athen gebracht und kurz darauf gestorben sein.
Der Angriff der Perser und Antwort der Athener
Der Angriff der Perser auf Attika war die Reaktion des persischen Großkönigs Dareios auf die Beteiligung Athens am Aufstand der Griechen in Kleinasien, der dort zehn Jahre zuvor gegen die persische Herrschaft ausgebrochen war. Die Athener hatten die Rebellen damals mit einer kleinen Flotte von 20 Schiffen unterstützt. Der Aufstand wurde jedoch schnell niedergeschlagen und Dareios forderte nun auch von den Städten Griechenlands die Unterwerfung. Athen (und Sparta) lehten jedoch ab. Der athenische Feldherr Miltiades setzte die Entscheidung durch, den Persern in einer offenen Feldschalacht entgegenzutreten. Er vertraute auf die Schlagkraft der Hoplitenphalanx. Die Soldaten kämpften ausgerüstet mit einem großen Rundschild und einem zweieinhalb Meter langen Speer in mehreren eng gestaffelten Schlachtreihen. Das griechische Wort Hoplon bedeutet schwere Waffen/Rüstung.
Zu Beginn der Schlacht bei Marathon griff die athenische Phalanx (griechisch „Walze“) das persische Heer, das angeblich zahlenmäßig weit überlegen gewesen sein soll, im Laufschritt an. Mit der Wucht ihres Ansturms gelang es den Hopliten, die gegnerischen Reihen zu durchbrechen und das Gefecht für sich zu entscheiden. So überlieferte es der griechische Historiker Herodot, die Hauptquelle für die Schlacht von Marathon.
Die Tagläufer
Nicht nur der Kämpfer in der Phalanx musste ein trainierter Läufer sein. Zahlreiche Quellen belegen die Existenz professioneller Meldeläufer und Eilboten, sogenannte Hemerodromoi, die Botschaften über große Entfernungen transportierten. Wie der Name schon sagt, waren sie dafür mindestens einen Tag unterwegs waren (Hemera = der Tag). Der Inhalt der Botschaften war oft militärischer Natur.
So erreichte der Athener Pheidippides, „ein Tagläufer von Beruf“ (Herodot), der vor der Schlacht von Marathon nach Sparta geschickt wurde, die etwa 200 Kilometer entfernte Stadt bereits am zweiten Tag. Und was macht ein Olympiasieger im Schnelllauf nach der Siegerehrung? Ageus, der Gewinner des Jahres 328 v. u. Z., lief einfach weiter. Noch am selben Tag verkündete die Nachricht von seinem Sieg höchstpersönlich in seiner Heimatstadt Argos. Die Sporthistorikerin Yvonne Kempen vermutet, dass er dabei eine Strecke von etwa 120 Kilometer zurückgelegt hatte.
Der Marathonlauf – eine Legende?
Angesichts dieser Leistungen ist es verwunderlich, dass der Bote von Marathon vor Entkräftung gestorben sein soll, nachdem er die vergleichsweise geringe Entfernung von 40 Kilometern zurückgelegt hatte. Zudem stellt sich die Frage, warum diese Aufgabe nicht von einem professionellen Hemerodromos übernommen worden war. Daher ist die oben beschriebene Geschichte vom Lauf des Soldaten nach Athen mit Sicherheit eine Legende. Gegen ihren möglichen Wahrheitsgehalt spricht nicht nur, dass die Geschichte an sich wenig plausibel ist. Warum sollte sich zum Beispiel ein Läufer in voller Rüstung auf den Weg machen. Plutarch, der Autor, hat überdies 600 Jahre nach der Schlacht gelebt. Herodot, der etwa 60 Jahre nach Marathon schrieb, wusste bezeichnenderweise nichts von einem Marathonläufer zu berichten.
Dem Historiker Michael Jung zufolge soll die Erzählung vom Marathonlauf zur Erklärung eines Wettlaufes entstanden sein. Dieser wurde ab Ende des vierten Jahrhunderts v. Chr. bei einem Fest zu Ehren der Göttin Artemis veranstaltet und von athenischen Wehrpflichtigen in Waffen durchgeführt.
Zu Fuß oder zu Pferd?
Warum aber – so die Frage angesichts der zahlreichen Berichte über Schnellläufer – liefen die Melder zu Fuß? Warum wurde nicht einfach ein Bote zu Pferd entsandt, der doch dann wesentlich schneller sein Ziel hätte erreichen können?
Zum einen ist Griechenland äußerst gebirgig und unwegsam, ein Fortkommen war in manchen Gegenden tatsächlich nur einem Fußgänger möglich. Pausanias, der Autor einer Reisebeschreibung des antiken Griechenlands, weiß beispielsweise von einem Pass auf der Peloponnes, der so steil war, dass man ihn durch künstliche Stufen begehbar gemacht hatte, und der von da an Klimax („Leiter“) genannt wurde.
Dort, wo es Straßen gab, waren sie schmal, so schmal, dass es zwischen zwei entgegenkommenden Reisenden zu Handgreiflichkeiten um die Vorfahrt kommen konnte; manchmal mit tödlichem Ausgang, wie einer der bekanntesten Mordfälle der Literatur zeigt: Ödipus erschlug an einem Engpass seinen Vater Laios.
Zum anderen waren Pferde teuer, damit äußerst wertvoll, und die Tiere sind dem Menschen nur auf Kurzstrecken deutlich überlegen. Die zahlreichen überlieferten Nachrichten über die Verwendung von Schnell- und Tagläufern bei den Hellenen beinhalten sicherlich manche Übertreibung, was deren Höchstleistungen angeht. Aber sie sind keineswegs alle Legenden. Sie lassen somit einen überraschenden Schluss zu: Der Mensch war dem Tier, der Meldeläufer war dem berittenen Boten ebenbürtig oder angesichts der geografischen Besonderheiten Griechenlands sogar überlegen. Das belegen auch Versuche aus der Neuzeit:
Experimente der Moderne
Dem Historiker Wolfgang Riepl zufolge hatte der Gewinner eines Distanzlaufes von Wien nach Berlin im Jahre 1893 fünf Tage für die Distanz von etwa 578 km benötigt. Damit war er zwar zwei Tage länger unterwegs gewesen als die Sieger eines Wettreitens ein Jahr zuvor, die dieselbe Strecke in drei Tagen bewältigt hatten. Die Tiere hatten den Hochgeschwindigkeitsritt jedoch nicht überlebt, sie waren noch am Ziel verendet. Der Reiter eines überlebenden Pferdes hingegen war kaum schneller unterwegs gewesen als der Läufer.
Eine Gruppe um den Experimentalarchäologen Marcus Junkelmann war 1985 in den rekonstruierten Marschausrüstungen der römischen Legionäre zu Fuß nur wenig langsamer als Jahre später bei einem ähnlichen Versuch zu Pferd. Auch die römischen Briefboten zur Zeit der Republik scheinen zumeist gelaufen zu sein. Wesentlich höhere Geschwindigkeiten bei der Nachrichtenübermittlung waren nach Junkelmann erst in der römischen Kaiserzeit zu erzielen. Der cursus publicus – eine Art staatlicher Kurierdienst – machte es möglich , die berittenen Boten an den zahlreichen Versorgungsstationen ständig mit frischen Pferden zu versorgen.
Der Grabstein des Aischylos
Der große Tragödiendichter Aischylos war schon in der Antike berühmt für solche herausragenden Werke wie die Orestie und er hatte in zahlreichen Tragödienwettbewerben gesiegt. Er wollte auf seinem Grabstein aber keine dieser Leistungen erwähnt wissen. Der Nachwelt sollte dort einzig und allein die Tatsache verkündet werden, dass er, Aischylos, Sohn des Euphorion, bei Marathon gekämpft habe
Dieser Text war 2010 Teil eines Artikels im Berliner „Tagesspiegel“.