Was wäre, wenn alles anders bleibt

Was wäre, wenn alles anders bleibt

24. November 2019 0 Von Julia Dietz

Nachdem ich die letzten Monate so sehr in meinen Roman vertieft war (Erscheinungsdatum voraussichtlich Frühjahr 2020), tut es gut sich nun auch endlich wieder anderen Geschichten widmen zu können. Was wäre wenn dein Leben sich plötzlich um 180° drehen, alle Pläne durcheinander gewirbelt werden würden oder du merkst, dass der Mensch, den du schon so lange als deinen besten Freund bezeichnest, einen anderen Lebensweg einschlägt als du?

Was wäre, wenn…

Ich war bereits wieder drei Monate in Hamburg. Die Zeit verging so schnell wie ein Fingerschnips. Was hatte ich eigentlich die ganze Zeit gemacht? Ich wohnte immer noch bei Frida. Die Möbel ihrer Mitbewohnerin waren verschwunden. Ich schlief immer noch in ihrem alten Zimmer, hatte mittlerweile aber einer Matratze, die sie mir liebenswürdigerweise überlassen hatte. Ansonsten war das Zimmer leer, bis auf meine Wenigkeit und meinen Reiserucksack.

„Warum ziehst du nicht bei mir ein?“, fragte mich Frida nun zum wiederholten Mal. Ich atmete tief ein. Die Stadt hatte mich verführt. Schon immer. Ich liebte Hamburg, den Hafen, die Bars und Clubs. Frida hatte mir einen Job in der Firma ihres Vaters verschafft. Ihm gehörte auch die Wohnung in der Frida wohnte. Er hatte sie ihr zum Geburtstag geschenkt. Eigentlich wollte er sie lieber in Eppendorf unterbringen, aber das war ihr zu snobistisch. Frida wollte in St. Pauli wohnen. Da wo noch echte Menschen wohnten, wo es dreckig war, wo die Luft brannte. Zumindest hatte sie diese Vorstellung. Ich fragte sie, warum sie nicht gleich nach Billstedt zog, aber das war ihr dann doch zu ‚echt‘.

Die Wohnung war riesig. Altbau mit hohen Decken, Holzfußboden und Terrazzo in der Küche. Sie hatte ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer, das einem Interior-Blog entsprungen sein könnte. Skandinavischer Stil, hell und reduziert, gemixt mit Mies van der Rohe, Eames und Bauhaus. Und dann war da noch mein Zimmer.  Leer.

„Sag schon ‚ja‘! Du wohnst doch quasi schon hier.“

Frida hatte recht. Eigentlich wohnte ich bereits hier, wenn auch ohne Möbel. Ich schlief und aß hier. Und ich brachte Männer mit hierher, die sich darüber wunderten, dass nur die Matratze in meinem Zimmer lag, es ihnen im selben Moment auch schon wieder egal war, denn mehr als eine Matratze brauchten wir dafür eh nicht.

„Okay, ich ziehe ein“, sagte ich schließlich. Sie kreischte los und umarmte mich stürmisch. Jetzt war es also offiziell. Ich war zurück in Hamburg. Nachdem wir mit Kaffee angestoßen hatten, rannte Frida ins Bad.

„Sorry, aber irgendwie ist mir nicht gut.“ Sie war kreidebleich, als sie zurück kam. „Vielleicht kommt das vom Sushi gestern! Das schmeckte auch irgendwie komisch.“

„Mir geht´s gut“, meinte ich. „Vielleicht auch einfach nur eine Magenverstimmung.“

„Wahrscheinlich.“

Die Magenverstimmung wurde nicht besser. Frida winkte aber immer wieder ab und ich dachte mir nichts weiter dabei.

Stattdessen fuhr ich zu meinem neuen Job. Es war nichts Besonderes. Ich musste Daten in Excel-Tabellen übertragen. Das Geld, das ich dort verdiente, konnte ich gut gebrauchen. Es gab schlechteres. Das Team bestand überwiegend aus älteren Männern. In meinem Alter gab es Julius, ein arroganter Typ mit Polohemd, braunen Lederschuhen und zurückgegelten Haare, den ich heimlich den FDP-Wähler nannte.

Und dann gab es noch Archie. Archie hieß eigentlich Archibald. Er war 23 Jahre alt, dünn, genau mein Typ. Er kam aus Blankenese. Mehrmals zeigte ich ihm mein leeres Zimmer mit der Matratze und er zeigte mir das Gartenhaus seiner Eltern, den Pool, die Sauna und sein ziemlich bequemes Bett.

Bis zum Abend blieb ich im Büro und schob Zellen hin und her, füllte sie mit Inhalt und formatierte sie. Dann fuhr ich mit der Bahn wieder nach Hause. Ich liebte Bahn fahren, egal ob U- oder S-Bahn. Oft schaute ich aus dem Fenster, beobachtete die Welt, die draußen an mir vorbei zog, die Natur, die Häuser, das sich verändernde Stadtbild während der Fahrt. Dabei hörte ich immer Musik. Klassik meets Electronic. Das hatte ich von Archie.

Manchmal beobachtete ich auch die Menschen um mich herum und war immer wieder fasziniert, was für Gestalten Hamburg auswarf. Da fuhr der Anzugträger neben dem Obdachlosen und das Partyvolk mit der arbeitenden Masse zusammen. Diese Mischung war es warum ich so gerne mit der Bahn fuhr. Hier interessierte es niemanden, was man machte, mit wem man schlief oder ob man total zugedröhnt war. Solange man die anderen nicht damit belästigte. Die gab es natürlich auch. Obwohl ich es lustig empfand, wenn osteuropäische Straßenmusiker einem ihre Musik aufzwangen.

Heute war Archie mit mir auf dem Weg zu meinem neuen Zuhause. Er saß neben mir und er erzählte mir von den Ferien, die er mit seinen Eltern machte. Der letzte Urlaub, den ich mit meinen Eltern verbrachte, war im Sommer meines 16. Lebensjahres auf einer Almhütte in Österreich. Es wurde gewandert und abends selbst gekocht. Irgendwann in der Pubertät wollte ich das nicht mehr, fand es langweilig und peinlich. Archie dagegen nutzte jede Gelegenheit Hamburg zu entfliehen, flog gemeinsam mit seinen Eltern nach Hawaii, Bora Bora oder auf die Malediven. Unterschiedlicher konnte zwei Personen wie Archie und ich eigentlich nicht sein und doch verband uns etwas. Ein Geheimnis, das nur wir kannten.

Archie blieb über Nacht und ich erwachte morgens mit dem Arm um meine Taille. Er schlief noch. Ich drehte mich zu ihm und begutachtete sein Gesicht. Archie hatte einen Freund in München. Als ich ihn fragte, ob es seinen Freund stören würde, wenn er mit anderen Männern schlief, druckste er herum. Also störte es ihn. Ich sagte nichts dazu. Warum sollte ich auch. Ich war nicht an seiner Stelle.

Frida saß bereits am Küchentisch und blätterte in einem Magazin. In einer Hand hielt sie ihren Kaffee, die andere hatte sie unter ihr Kinn gestützt. Ihre Augen wanderten zu uns, als wir den Raum betraten.

„Guten Morgen“, sagte sie und nippte an ihrer Tasse. Sie grinste mich spitzbübisch an und schaute dann wieder auf ihre Zeitung.

Frida kam erst spät nach Hause. Wahrscheinlich war sie wieder feiern gewesen. Dass sie jetzt schon wieder wach war, überraschte mich umso mehr.

„Mir ging es heute Morgen so schlecht, dass ich schon wieder kotzen musste. Bestimmt vom Alkohol. Dabei habe ich gar nicht so viel getrunken. Ich vertrag einfach nichts.“

„Vielleicht bist du ja schwanger“, warf Archie in den Raum. Fridas Gesicht versteinerte sich von einer Sekunde auf die andere. Auch ich starrte ihn an.

„Naja, sagt man doch so, wenn einem morgens schlecht ist, ist man schwanger. Zumindest als Frau und abgesehen davon, wenn man keinen Kater hat.“

Frida und ich tauschten Blicke aus.

„Hast du da etwa noch nicht daran gedacht?“, fragte Archie.

„Ähm – nein?!“

„Ist doch das Naheliegendste.“

Frida wurde kreidebleich.

„Hast du deine Tage bekommen?“

„Also – ähm – noch nicht.“

Archie zog die Augenbrauen hoch. „Vielleicht solltest du mal einen Schwangerschaftstest machen.“

Ich fragte mich, warum ich noch nicht darauf gekommen war. Zwar hatte ich keine Ahnung, wie sie verhütete, aber sie hatte eindeutig Geschlechtsverkehr. Ihr letzter Typ, den ich zufällig eines Morgens auf dem Weg zur Toilette getroffen hatte, war ein verpeilter Kerl in Boxershorts und Kapuzenpullover, der sich am Sack kratzte und gerade eine Zigarette ansteckte. Der könnte ein potenzieller Erzeuger sein.

„Ich kann nicht schwanger sein!“, jaulte sie.

„Können schon, aber Wollen ist wohl der entscheidende Faktor,“ bemerkte Archie.

„Wie wär´s wenn wir nachher einen Schwangerschaftstest kaufen? Ich begleite dich“, sagte ich und drückte ihre Schulter. Langsam nickte Frida.

Der Schwangerschaftstest Erscheinungsdatum

Frida und ich gingen alleine los. Archie fuhr zurück nach Blankenese. Er hätte noch ein Skype-Date mit seinem Freund. Bei der Bemerkung zog etwas in meinem Bauch. Zum ersten Mal, seit wir uns trafen.

„Bist du nicht eifersüchtig?“, fragte mich Frida und stob mit ihrem Fuß einige heruntergefallene Blätter auseinander. Unentschlossen zuckte ich die Schultern. Eifersucht war so ein Wort was ich nicht mochte. Es war ein Gefühl, dass ich nicht zulassen wollte und doch schlich es sich heimlich, still und leise in mein Bewusstsein. War ich eifersüchtig?

Den Rest des Weges liefen wir schweigend, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, nebeneinander her, querten die Schiebetür der Drogerie und streiften suchend durch die langen Gänge vorbei an Creme und Shampoo. Frida machte die Augen zu, als wir die Windeln neben uns im Regal entdeckten.

„Glaubst du, ich bin schwanger?“, fragte mich Frida erneut, als wir in der Drogerie vor den Verpackungen mit den Testern standen.

„Auszuschließen ist es nicht“, antwortete ich. Mein Blick traf ihren. Nie hatte ich sie so verzweifelt gesehen. Frida war meine beste Freundin, seit Kindertagen. Aus einer Sandkastenfreundschaft wurde ein Necken in der Pubertät. Sie suchte sich neue Freundinnen, weil man das eben so machte als Mädchen und ich schaute manchmal ratlos zu, wie sie mich außen vor ließ, nur um im nächsten Moment wieder bei mir zuhause aufzutauchen und stundenlang vor dem Fernseher Liebesfilme zu schauen und herrlich zu heulen, wenn sie sich endlich gefunden hatten. Und dann bei Romeo + Julia, als wir uns das erste Mal geküsst hatten, fühlte es sich vertraut und schön an. Ich war nicht ihr Erster. Sie war dafür die erste und einzige Frau, die ich geküsst und geliebt habe.

Selbst als ich mit meinen Eltern aus Hamburg wegzog, hielten wir den Kontakt. Frida wollte immer den Traumprinzen, der mit dem weißen Schimmel angeritten kam und sie wie Rapunzel aus dem Turm befreite. Nur bis jetzt gab es keinen Prinzen, sondern nur Ratten, die sich in ihrem Herz einnisteten und sie ein bisschen weniger an das großartige Märchen glauben, zurück ließen.

Als wir in meinem Bett gelegen hatten, damals nach Romeo + Julia, und sie mir mit dem Finger über die Brust fuhr, fragte sie mich, ob ich je Kinder haben wollte. Ich war 15 und meine Gedanken kreisten eigentlich nur um den Jungen aus der Parallelklasse. Frida war sich damals bereits sicher, dass sie Kinder haben wollte. Mit dem Richtigen. Und jetzt konnte sie sich nicht mal sicher sein, wer der Vater war.

 

Beherzt griff Frida einen der Schwangerschaftstests und trug ihn erhobenen Hauptes zur Kasse. Wenn schon nicht der Prinz kam, konnte man zumindest die innere Königin zum Vorschein bringen.

Das perfekte Mädchen Erscheinungsdatum

Frida war eines dieser Mädchen, die immer Aufmerksamkeit bekommen hatten. Früher lag es an ihren perfekten Korkenzieherlocken. Als sie älter wurde an ihrem dünnen Körper und den fabelhaft geschwungen Augenbrauen und Lippen. Jedes Mädchen wollte so sein wie Frida. Und jede von diesen Mädchen hasste sie auch heimlich dafür. Kurz bevor ich Hamburg verließ, waren wir so weit voneinander entfernt, wie nie zuvor. Das lag an Paul. Zumindest behauptete Frida das damals. Vielleicht auch ein bisschen an mir. Denn das erste Mal in meinem Leben, stand nicht Frida im Mittelpunkt, sondern ich. Paul wurde zu meinem Zentrum. Immer. Seine Küsse ließen mich über dem Boden schweben, wie Wolken auflösen und im blauen Himmel baden. Jede Minute verbrachte ich mit ihm. Und Frida? Sie war doch meine beste Freundin. Sie würde es verstehen. Dachte ich zumindest. Doch sie hasste Paul.

Als wir das letzte Mal zusammen Weihnachten feiern sollten, eine Tradition, die unsere Eltern schon lange pflegten, war alles wie immer. Es wurde zusammen gegessen und gelacht. Frida und ich dagegen schwiegen uns an. Ich war sauer auf sie. Frida entschuldigte sich für einen Moment. Ich folgte ihr, wollte sie zur Rede stellen, warum sie sich nicht für mich und Paul freuen konnte. Und dann drängten sich durch die geschlossene Toilettentür und Fridas Kotzgeräuschen plötzlich in mein Bewusstsein, dass sie der einsamste Mensch auf diesem Planeten war. Darum war sie so dünn. Darum rannte sie nach dem Essen immer auf die Toilette. Meine Wut verflog von einer Sekunde auf die nächste. Vorsichtig klopfte ich. Fridas hörte auf sich zu erbrechen. Stille.

„Wer ist da?“, fragte sie, spuckte aus.

„Ich bin es.“

Ich hörte Wasser rauschen, von der Toilette und vom Waschbecken. Die Tür wurde geöffnet und ihr rosafarbener Lippenstift verriet nichts von dem, was ich gehört hatte.

„Was ist?“, fragte sie.

„Warum hasst du mich? Weil ich mit Paul zusammen bin?“ Gegenfrage von mir.

Frida verdrehte die Augen, nur um mich danach mit ihren Katzenaugen zu fixieren. „Du hast mir was versprochen!“

„Habe ich das?“

„Wenn du dich nicht mal mehr daran erinnerst, dann kann ich dir auch nicht helfen.“ Sie wollte an mir vorbei gehen, doch ich hielt ihr meinen Arm vor die Brust, ließ sich nicht die Tür passieren.

„Ich habe dir versprochen, dass wir immer Freunde sein werden. Daran hat sich nichts geändert!“, sagte ich.

„Und was war das bei dir zuhause? Wir waren Romeo und Julia. Ich dachte, du liebst mich?!“

Anstatt ihr eine Antwort zu geben, nahm ich sie in den Arm. Sie wollte sich wehren, aber dann presste sie sich an mich.

„Ich liebe dich, aber eben nicht so“, flüsterte ich und Frida schluchzte heiße Tränen in meine Halsbeuge.

Das Ergebnis Erscheinungsdatum

Wie damals hielt ich sie nun im Arm und sie drückte ihr Gesicht an meine Halsbeuge, um das Display nicht ansehen zu müssen. Stattdessen hielt ich es hinter ihrem Rücken und wartete.

„Ich will es nicht wissen! Ich will es nicht wissen!“, sagte sie wie eine Zauberformel gegen mein Shirt. Ein paar Minuten vergingen in denen ich schwieg. Bis sie mich ansah, ein wenig fassungslos, dass ich wirklich nichts sagte und griff sich dann den Test.

„Und wenn ich schwanger bin? Was dann?“, fragte sie. Unsere Blicke hafteten immer noch aneinander.

„Dann kriegen wir das auch irgendwie hin.“

„Bin ich schwanger?“

Als Antwort zeigte ich mit dem Kopf zum Display des Tests. Langsam senkte sie ihre Augen und hielt die Luft an.