Die Auftragsfirma
Die Auftragsfirma
Nicolais Sneaker quietschen auf dem laminierten Boden, bis er auf Teppich geht. Es riecht nach Putzmittel. Am schlichten Tresen sitzt niemand. Eine Uhr tickt. Sonst ist es still. Er lehnt die Krücke an die Wand und stützt sich ab, fährt sich durch die Haare, spürt kalten Schweiß auf seiner Stirn. Der Riemen von seiner voll beladenen Tasche scheuert an der Schulter. Er stellt sie ab und wartet. Irgendwie hat er sich alles ein wenig schicker, ein bisschen mit mehr Stil vorgestellt. Nicht so alternativ. Er sieht auf zusammen gewürfelte Sozialmöbel. Durch das gekippte Fenster lärmt die Stadt.
„Hallo?“, ruft er in den Raum hinter dem Tresen.
„Entschuldigen Sie bitte, dass Sie warten mussten…“ Auf ihn kommt eine schlanke Dame im schicken Hosenkostüm zu und gibt ihm die Hand. „Sie müssen Herr Schneider sein. Ich bin ihre Beraterin, Frau Dietrich. Bitte setzen Sie sich…“ Sie deutet mit der Hand auf das Sofa. Nicolai findet es absurd sich auf etwas zu setzen, das aussieht wie eine kitschige Tapete. Wäre es wenigstens retro, aber es ist mehr so Kinderzimmer. Trotzdem nimmt er wieder seine Krücke, für die er eigentlich zu jung ist und quält sich zur Couch.
Frau Dietrich lächelt. „Wollen Sie einen Kaffee oder ein Wasser?“
„Ein Wasser bitte.“
Sie verschwindet wieder hinter dem Tresen und Nicolai findet, dass Frau Dietrich nicht hier in diese Flohmarktkulisse passt. Dazu ist sie zu hübsch. Fast so schön wie Silke. Arbeitsplätze kann man sich nicht aussuchen. Zumindest nicht die Einrichtung.
„Also Herr Schneider.“ Frau Dietrich setzt sich auf den Sessel schräg gegenüber, während sie ihm das Wasser hinstellt. Er trinkt einen Schluck. „Was führt sie zu mir?“, frägt sie, überschlägt die Beine, hält einen Stift in ihrer Hand über einem Klemmbrett und sieht ihn erwartungsvoll an.
„Wozu schreiben Sie mit?“, will er wissen.
„Das ist erstmal nur für den internen Gebrauch. Also für unsere Akten. Alles was Sie mir erzählen bleibt bis zur Entscheidung unter uns. Und die Akten werden sofort gelöscht, sollten Sie es sich doch anders überlegen.“
Nicolai nickt. „Und falls ich mich dafür entscheide?“
„Dann gehen die Akten an die nächste Stelle. Sehen Sie, wir haben mit RetributionLife einen Vertrag geschlossen in dem sich Kunde und Auftragsfirma dazu verpflichten sich von der Schweigepflicht zu entbinden sobald eine Entscheidung fest steht. Was aber nicht bedeutet, dass dies die letzte Station für ihre Entscheidung ist.“
„Wozu?“
„Für die Statistik.“
Seine Mundwinkel zucken. Frau Dietrich mustert Nicolai aufmerksam. „Wissen Sie, Herr Schneider, da es ja eine sehr schwierige Entscheidung ist, hat RetributionLife im letzten Jahr Statistiken gesammelt um der Bevölkerung und natürlich auch unentschlossenen Kunden aufzuzeigen wie viele bereits von dieser großartigen Möglichkeit der Wiedergutmachung Gebrauch gemacht haben und außerordentlich damit zufrieden waren.“ Sie zieht einen dünnen Katalog vom Klemmbrett und reicht ihn Nicolai. Er blättert ihn durch. Sieht Tabellen, Kurven und Bewertungen. „RetributionLife schützt Sie und ihre Angehörigen vor Vergeltungsanschlägen und bietet eine wirklich saubere Selektion an.“ Sie lächelt kurz und fügt stolz hinzu. „Eine der saubersten in ganz Europa wohl gemerkt. Weswegen sich selbst der oberste Gerichtshof auch nur an RetributionLife wendet. Unsere Kunden kommen wieder an eine gewisse Lebensqualität.“
Nicolai hält kurz den Atem an. Sein Leben hat alles andere als Qualität seit dem Tag, den er still und heimlich die Endzeit nennt. Er geht nicht mehr zur Uni, weil er körperlich nichts mehr schafft. Schlaflose Nächte. Zu viel Alkohol. Und nicht weil er feiern geht. Er möchte die Angst nicht mehr spüren. Vor dem Endzeit-Tag, an dem dieser Einbrecher ihm nicht nur sein Leben, sondern auch das von Silke genommen hat.
Nicolais Hände beginnen zu schwitzen. Er spürt wie sich sein Puls sofort beschleunigt weil er wieder daran denken muss. An das Blut im Schlafzimmer, an Silkes leblosen Körper auf dem Fußboden, an den Schuss, an das Krankenhaus in dem er notoperiert wurde. Es ist ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt. Doch Frau Dietrich lächelt. Ihre braunen Augen haben etwas besänftigendes, etwas, dass ihm Ruhe verspricht. Lebensqualität.
„Wen selektiert die Firma für gewöhnlich?“
„Da wir als Auftragsfirma natürlich nur mit den Besten zusammen arbeiten, kann ich Ihnen versichern, dass RetributionLife auch nur hoch angesehene Ermittler beschäftigt und alles ausführlich geprüft wird, bevor es zu den nötigen und letzten Schritten kommt. Also, es werden nur diejenigen selektiert, die es auch wirklich verdient haben. Sehen Sie, seit sich im Strafgesetzbuch der Artikel zur Vergeltung oder Selbstjustiz geändert hat, sind ganz viele Firmen aus dem Boden geschossen, leider auch unseriöse. Aber so ist das ja auch in anderen Dingen….“
„Ja, da haben Sie recht,“ sagt er und lächelt etwas schief.
„Ich versichere Ihnen, dass wir darauf achten keine Fehler zu machen. Denn ihr Leben soll ja nicht schlimmer werden, sondern besser. Darauf hat sich RetributionLife spezialisiert. Aber keine Sorge. Sie müssen sich nicht sofort entscheiden. Wenn Sie möchten erkläre ich Ihnen heute erstmal wie wir vorgehen. Vorab stelle ich Ihnen noch ein paar Fragen. Okay?“
Er zittert vor Aufregung. Und nickt.
„Ist der Täter denn schon in Gewahrsam?“, frägt Frau Dietrich.
„Ja“, sagt Nicolai.
Sie notiert und sagt nebenbei: „Dann haben Sie den ersten Schritt.“ Sie sieht auf.
Nicolai versteht nicht.
„Na, dann brauchen wir schonmal keinen Profiler der den Täter sucht. Wissen Sie, in der Vergangenheit gab es ein paar Fälle in denen wir das organisieren mussten. Weil es die Polizei nicht geschafft hat.“
„Verstehe.“
Frau Dietrich fährt fort, verlangt, er solle in einer Kurfassung schildern, was passiert sei. Er erzählt ihr bruchstückhafte Erinnerungen. Der Schmerz ist dabei kaum auszuhalten. Er beißt sich auf die Zunge um die plötzlich aufkommende Wut wieder zu kontrollieren. Nicolai darf vom obersten Gerichtshof aus mit entscheiden was mit diesem Schwein, der das Leben seiner Silke auf dem Gewissen hat, passieren soll. Die Staatsanwaltschaft empfahl ihm die Auftragsfirma Dietrich. Bei so einer wichtigen Entscheidung würde er Unterstützung brauchen. Überhaupt wäre die Firma Dietrich eine der meist besuchten Beratungsstellen und Auftragsfirma in einem.
Frau Dietrich schreibt mit und immer wieder streift ihn ihr verständnisvoller und aufmerksamer Blick.
Sie hält Inne und sagt mit Bedauern in ihrer Stimme: „Da haben Sie ja eine Menge durch gemacht. Ich empfehle Ihnen dringend vor Ihrer Entscheidung die Bewertungen und Kommentare von anderen Kunden auf unserer Webseite durchzulesen.“
„Welche Entscheidungsmöglichkeiten habe ich denn?“, frägt Nicolai.
Sie legt den Stift und das Brett weg. „Nun wir sind für eine schnelle und saubere Lösung. Selektion durch Tötung. Alles andere wäre zu aufwendig.“
„Und was zum Beispiel?“
„Wenn Sie unsere Webseite besuchen, können Sie sich gerne die Angebote von RetributionLife durchlesen. Aber empfehlen würden wir Ihnen die sicherste Variante.“
Nicolai frägt nicht nach. Sicherheit spürt er schon lange nicht mehr. Dieses Schwein soll sich auch nie wieder sicher fühlen. Das war sein erster Gedanke, als er die Entscheidungsgewalt über das Leben des Täters bekam. Der Gerichtshof hat es eine abscheuliche und hinterlistige Tat genannt. Details kamen ans Licht. Der Täter stamme aus ärmlichen Verhältnissen, habe viel Gewalt in der Kindheit erlebt. Wäre von Heim zu Heim weiter gegeben worden. Geriet zu früh an die falschen Kreise. Nicolai hält davon nicht viel. Er denkt wieder an Silke. Daran, dass sie auch eine schwere Kindheit gehabt hat. Er schlägt die Hände vor sein Gesicht. Die Gedanken in ihm kreisen wieder: Ein Leben für ein Leben…
Frau Dietrich merkt es. „Herr Schneider, ich empfehle Ihnen dringend sich vor Ihrer Entscheidung noch in professionelle Hände zu begeben. Sie haben wahrscheinlich noch keinen Psychologen besucht?“
Er schüttelt den Kopf.
„RetributionLife hat dafür eine Liste zusammen gestellt mit den besten Therapeuten die sich auf die Selektion spezialisiert haben. Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen die Liste mit. Ich bin mir sicher, dass wir Ihnen bei ihrer Entscheidung weiter helfen können.“ Sie lächelt wieder so warmherzig.
Nicolai nimmt das Blatt Papier entgegen, dass ihm Frau Dietrich vor die Nase hält. Dann erzählt sie ihm den Vorgang von RetributionLife. Der Tathergang würde noch einmal beleuchtet, die Ermittler würden DNA-Spuren nochmals testen. Sie müssten absolut sicher sein. Die Gerichtsakten würden nochmals geprüft. Nicolai müsse nochmal erzählen, was er erlebt hat. Und seine Entscheidung ausführlich begründen. Dann würde RetributionLife eine Konferenz halten und Nicolai den Tötungsvorgang erklären. Sie würden ihn wiederholt fragen, ob es sein freier Wunsch sei, dass die Tötung durchgeführt werden darf. Er müsse dann noch einen Vertrag unterschreiben. Danach darauf hingewiesen werden, dass er der Tötung beisetzen kann oder nicht…