Erfinden wir einen neuen Namen für diese Stadt…
Vor zehn Jahren zog ich von einem kleinen Ort nach Augsburg. Ich ließ meine damalige Beziehung und meinen Job zurück, um in der Stadt einen neuen Anfang zu finden.
Augsburg. Das klingt nicht weit weg, eine halbe Stunde Autobahn um genau zu sein.
Ich schwamm im Eiskanal, durchforstete die Badestellen am Lech, machte Radtouren von der Stadtmitte über den Siebentischwald und rund um Augsburg. Ich tanzte in den Clubs, holte mir in der Maximilianstraße nachts um drei einen Falafel, rauchte, trank und feierte das Leben. Hatte immer das Gefühl, ich müsste mich beeilen, immer die Sehnsucht danach jetzt zu tanzen, jetzt zu leben und jetzt das zu machen was ich konnte.
Ich verließ Augsburg und zog nach Berlin. Machte Praktikum in einer Klinik. Fühlte mich oft verloren. Trotz Anschluss und langer Nächte, fehlte mir der Lech, das grenzenlose Gefühl so weit an diesem Fluss fahren zu können bis irgendwann das Meer auftaucht. Berlin war das Große, das was ich immer wollte, war ein Gesamtkunstwerk an sich, hätte aus mehreren Städten bestehen können, war ein Grenzzaun, war kalt und dreckig hübsch, war es wert, aber nicht für immer. Zum Schluss siegte die Einsamkeit (und drei Monate ohne einen einzigen Sonnenstrahl), die man in so einer Stadt erlebt, obwohl man dort keinen Ort findet an dem man alleine ist.
Ich musste zurück, Augsburg.
Ich arbeitete in einer Galerie, organisierte mit anderen Künstlern Lesungen und Ausstellungen. Augsburg war bunt, war lebendig, steckte voller kreativer Köpfe und ihre Ideen machten diese Stadt zu etwas Einzigartigen. Und die Menschen die ich kennen lernte sind nun meine Heimat geworden.
Vor zehn Jahren, als ich noch niemanden in Augsburg kannte, als all das Neu war und alles eine Entdeckung, schrieb ich in einer einsamen Nacht einen Text für eine mir damals unerforschte Stadt. Und seit dem fühlt es sich an, als hätte Augsburg selbst diese Zeilen gelesen und hätte die Arme geöffnet und gesagt: Komm, ich zeige dir alles was ich zu bieten habe. Lebe und tanze mit mir!
Jetzt ist es still. Die Straßen und Parks, die Bürgersteige leer. Kneipen und Bars geschlossen, die Geschäfte sind nur noch sterile Schaufenster, keine Musik, keine Kunst. Menschen mit Masken, in Isolation und Abstand. Tote und Gräber, Heimweh, Fernweh und Angst. Ein stummer Schrei, ein Durchhalten, ein, es geht schon irgendwie weiter. Zusammenhalt und Grenzen. Kein Meer in Sicht. Auf engsten Raum. Die Vergessenen noch mehr ins Abseits. Keine Spiele, Kein Brot. Und nicht mal Kuchen. Aber es geht uns gut, Augsburg ist zufrieden so im großen und Ganzen, hat Zuversicht. Die Friedensstadt eben. Es wird alles anders. Oder auch nicht. In diesen wirren Zeiten.
Augsburg, hier ist mein zehn Jahre alter Text. Damit du die Arme offen hälst und nicht aufgibst:
Erfinden wir einen neuen Namen für diese Stadt
Taufen die Flüsse, Wälder, Schlote so wie wir wollen
Setzen uns auf den Sims vom höchsten Dach
bewundern was wir erschaffen
Silberstadt bei Nacht
Die Sterne leuchten hier in allen Farben
Sie erklingen aus Lautsprechern
Jagen wir ihnen nach
durch die So normal Kneipe
direkt hinter dem Na und Kino
Auf dem Ratlosplatz, wo der große Wunschbrunnen steht
Wir schlafen nicht, träumen uns durch die Dunkelheit
Am Tag durchschreiten wir Regenhausen im Viertel der Hartzkönige
Sonnen uns vor flirrenden Schirmen
auf flüsternden Wiesen
direkt am Strom der Zeit
Wir setzen uns auf die Klagemauern
Sehen zu wie das Hoffenviertel in Schutt und Asche gelegt wird
Nicht viele von uns nehmen eine Abkürzung durch den gefürchteten Wahr-Tunnel
Wo Wörter wilde Affen und lechzende Wölfe sind die Verschrobenhausen den Krieg erklären wollen
Sie schreiben mit ihrem Seelenblut in Buntstetten Botschaften in die Sandkästen
Tanzen
Bis alle Spuren verwischen
Wir waren immer Freunde des städtischen Angst-Cafes hinter dem Legionentor
Dort sammeln sich tausende von uns und rufen andere Namen hinauf zu den Göttern
Gewidmet allen Augsburgern, von Nessa Hellen.