Inspiration: Eine Geschichte aus 5 mal 55 Wörtern

Inspiration: Eine Geschichte aus 5 mal 55 Wörtern

1. März 2020 0 Von Katharina Maier

Inspiration – das ist eine der schönsten Nebenwirkungen, die ein Gruppe wie die Schreiber und Sammler entfalten kann. Manchmal, ganz besonders dann, wenn man selbst nicht weiter weiß, können die Texte der anderen zu neuen Ideen anregen. Ideen, auf die man selbst nie gekommen wäre. So ging es mir mit dem letztwöchigen Beitrag von Valentina Wagener: 55 Wörter.

Fehlende Inspiration

Manchmal, wenn ich an der Reihe bin, einen Blog-Beitrag für die Schreiber-und-Sammler-Seite zu verfassen, dann weiß ich schon ganz genau, was es werden soll. Ich kann es gar nicht erwarten, bis ich endlich dran bin! Aber hin und wieder, da läuft es auch so: Wiiiiiiieeee, es ist schon wieder Sonntag? Und ich bin dran! Was soll ich nur schreiben?! Hilfe!!

Schreiben mit Grenzen

In solchen Situationen des Nicht-wissen-was-man-schreiben-Sollens hilft es eigentlich fast immer, sich eine bestimmte Aufgabe zu setzen. Kurzgedichte sind dafür gut geeignet, zum Beipiel Elfchen oder Akrosticha. Was das ist? Wahrscheinlich gibt es dazu mal einen eigenen Beitrag. 😉

Auch ein Drabble kann man sich vornehmen, eine Kürzestgeschichte aus genau 100 Worten. Innerhalb solcher Grenzen zu schreiben, fühlt sich zunächst oft einengend an. Aber wenn man sich darauf einlässt, kann es ganz ungeahnte kreative Kräfte freisetzen. Es ist ein wenig wie ein Puzzlespiel oder ein Sudoku.

55 Wörter

Und da sah ich also Valentinas Beitrag mit der Schreibidee „Fifty-Five Fiction“ der New Times in San Luis Obispo, California. Eine Geschichte in höchstens 55 Wörtern. Was Valentina daraus gemacht hat, könnt Ihr hier nachlesen.

Mich hat das Konzept dazu insipiriert, mir eine kurze Geschichte aus meinem Arsenal vorzunehmen, mit der ich noch nie so richtig zufrieden war, weil ich sie zu gewöhnlich fand. Also habe ich ihr eine neue Form gegeben und sie in 5 mal 55 Wörtern neu erzählt. Und hier ist das Ergebnis. Vielleicht kann auch jeder Teil als Kürzestgeschichte für sich stehen. Was meint Ihr?

Die Geschichte: Sie sollte nicht (nicht jugendfrei 😉 )

 

Trauer

Sie ist verheiratet und eine Mutter, sollte es besser wissen.

Trauer ist stärker. Ihre Trauer. Seine Trauer. Sie hört es am Brechen seiner Stimme, wenn er kommt. In diesen Momenten denkt er nicht an sie. Das ist okay. Sie denkt auch nicht an ihn. Ihr Bruder ist tot, sein Mann in ihrem Bett. Nicht okay.

 

Schokolade

„Denkst du denn manchmal an mich?“, fragt sie ihn einmal, danach.

„Andauernd“, antwortet er.

„Lügner“, sagt sie. „Wenn das wahr wäre, würdest du aufhören.“

Er küsst sie. Sie nimmt an, er tut es, damit sie den Mund hält. Seine Küsse schmecken wie Schokolade, 85 %. Hin und wieder fragt sie sich, warum das so ist.

 

Kaugummi

Er berührt sie, als wäre sie schön, vergräbt seine Nase in ihrem Haar, das immer ein bisschen nach Küche riecht, saugt an ihren Fingern, die wie Kaugummi schmecken, wie klebriger Kinderkram. Küsst Stellen, denen noch nie jemand besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat. Sie fragt sich, ob er ihren Bruder auch so berührt hat, und hasst ihn.

 

Schubladen

Sie liebt ihn. Sich selbst zu belügen, hat keinen Zweck. Das hat sie ihm auch gesagt. Er meinte, sie liebe ihren Mann deswegen nicht weniger.

„Ich liebe dich auch, weißt du“, sagt er.

„Als was?“, fragt sie. „Als Affäre, Schwester oder Mutter?“

„Schubladen“, ist seine Antwort.

„Also eine Mutter“, sagt sie. Er bestreitet es nicht.

 

Fragen

Bald wird es jemand merken. Vermutlich die Kinder. Vielleicht wissen sie es auch schon. Sie spüren, dass ihre Mutter nur halb anwesend ist. Bald wird eines von ihnen fragen, warum. Sie weiß nicht, was sie antworten wird. Es kann nicht ewig so weitergehen. Aber aufhören kann sie auch nicht. Oder? Die Frage kommt. Und dann?