Isabell rennt mit den Wölfen
Nacht
Isabell rennt mit den Wölfen. Jede Nacht. Sie heult mit ihnen. Da draußen. Über den dunklen Hügeln. In einem Wald aus Dornen und Schlingpflanzen. Sie versteckt sich dort, in einem Verschlag, unter dicken Baumwurzeln, wühlt sich in die Erde, in die kühle und schattige Welt die nach Moos und Kiefern duftet. Die Wolfsmutter bewacht ihre große und starke Eiche. Das Rudel reiht sich um sie, in der blau schimmernden Nacht und legt die Köpfe auf die Pranken. Gespitzte Ohren, die bei jedem Geräusch zucken. Sie schlafen nie. Ihr schwarzes Fell glänzt im Mondlicht und Isabell weiß dass niemand es wagt diesen Wald zu durchqueren.
Welpen
Gisela hob sie mit beiden Händen auf den Holzzaun. Isabell zeigte auf die schwarzen und grauen Tiere mit dem dicken Fell. Das Gehege grenzte an einen Wald aus dem eine saftig grüne Wiese wie ein Meer auf sie zufloss. Die Welpen tapsten auf ihre Mutter zu, rollten sich über den Sand. Sie fiebten und jaulten. Und Isabell hörte ihr Herz schneller schlagen, als die liebe Gisela ihre kleine Hand nahm, das faltige Gesicht an ihre Wange drückte, ihr anderer Arm um Isabells Hüfte legte, so sanft und doch so sicher.
„Schau Isabell! Schau wie klein sie sind!“, flüsterte Gisela in ihr Ohr. „Sie sind Babys. Aber sie werden wachsen. Sie werden so groß wie ihre Mama…“
„Mama!“ Isabell warf die Hände in die Luft. Gisela lachte und drückte ihr einen Kuss auf die Backe.
Tag
In der Schule nickt Isa kurz ein.
„Isa!“
Sie blickt auf. Frau Lars sagt nochmal etwas. Aber sie versteht es nicht. Isa dreht ihren Kopf. Um sie herum leises Getuschel. Tommy zupft an ihrem Pulli und sie zieht ihren Arm schnell an ihren Körper. Ihr Herz schlägt wild und beruhigt sich nur langsam.
Frau Lars seufzt und wirft ihr einen enttäuschten Blick zu. Das ist nichts Neues für Isa. Mehr wird nicht passieren. Deswegen wendet sie ihren Blick ab und sieht aus dem Fenster.
„Was ist denn los?“, flüstert Tommy neben ihr.
„Nichts.“
Nacht
Sie ist weit weg. Von dieser Hitze, von ihrem vor Schmerz zitternden Körper. Sie steigt zur Decke, schwerelos, wie Helium. Von dort oben sieht sie alles. Und wendet sich ab. Auf in den Wald! In die schimmernde Dunkelheit! Mit den Wölfen rennt sie über die weichen Hügel, zwischen den schwarzen Baumstämmen. Unter die Eiche, die ihre Wurzeln öffnet. Die Wolfsmutter gibt dem Rudel zu verstehen niemanden am Leben zu lassen. Der Wald wird zu einer Festung, die Dornen werden sie alle aufhalten. Isabell hat in ihrem Wald die Macht sie lebendig werden zu lassen. Sie werden die Körper ihrer Peiniger umschlingen, sie zereißen, sie verbluten lassen.
Mama
Gisela starb. Sie war alt geworden. Isabell liebte sie. Mehr als ihre eigene Mutter, die so gut wie tot war, nicht anwesend jedenfalls. Zu keiner Zeit. Aber auf keinen Fall nachts, in der er kam und von Isabell Besitz ergriff. Er begann damit als die Tote Isabell zu sich holte, weg von ihren geliebten Wölfen, dem Gehege und ihrer lieben Gisela. In dieses Haus, dass zu riesig war, um sich wohl zu fühlen. Dort, zwischen den hohen Wänden, wo es keine Nischen gab, nichts zu verstecken hinter den großen Glasfenstern, und doch ein Geheimnis. Eines wie die Apokalypse. Von der Isabell nicht wusste was es bedeutete. Gisela war unter zwei Meter Erde begraben. Die Wölfe riefen nach ihr. Bis das Feuer kam. Und sie bei lebendigen Leib fraß. Er sagte es war ein Unfall. So etwas passiert eben. Und die Tote senkte den Kopf und stimmte ihm zu. Tränen und eine Wut so heiß wie Wolfsblut. Aber Isabell musste sie unterdrücken.Wegen ihm.
Tag
Isa weiß über das Blut bescheid, dass seit ein paar Monaten fließt. Es kommt am Morgen, kurz vor dem Sport in der Umkleide. Sie freut sich, denn seit dem lässt er sie in Ruhe. Und Tommy, er wird sie wieder so ansehen und sie wird versuchen sich ganz normal zu fühlen, sich vorstellen wie es wäre…. Doch gleichzeitig geschieht etwas anderes. Isa entdeckt es an ihrem Fuß, als sie sich bückt um die Socken anzuziehen. Einen schwarzen unförmigen Fleck, den sie versucht mit etwas Spucke und dem Handtuch weg zu rubbeln. Doch er bleibt und sie merkt, es ist kein Fleck. Sie zögert, dann fährt sie mit dem Finger darüber. Es fühlt sich an wie Kückenflaum. Eine dunkle kleine Staubwolke verpufft, als sie es berührt. Riecht nach verbrannter Asche…
Jemand packt ihre Schultern. Isa erschrickt und zieht schnell die Sportsocke über. Nina kichert.
„Geht Tommy mit dir zum Abschlussball?“
„Ja“, lächelt Isa.
Nina grinst. Doch dann ändert sich ihr Blick. Sie hebt das Kinn und schnuppert in die Luft. „Sag mal, hast du Luder hier drin etwa geraucht? Ohne mich?“
Nacht
Seit einiger Zeit ist er nicht mehr gekommen. Isa ist zu alt für seine Spielchen. Zu blutig. Die Tote war frisches Fleisch kaufen. Isa riecht es bis in den Schlaf und sie erwacht mit unstillbaren Hunger mitten im Traum. Sie geht durch das dunkle Haus und findet im Kühlschrank was sie aufgeweckt hat. Sie zerreißt Folie, gräbt die Hühnerbrust aus der Plastikschale und stopft, frisst mit beiden Händen so schnell, schlingt und bohrt ihre Nägel in das Rohe, reißt es. Leckt sich das Blut von den Fingern, rennt in das Bad um ihr Gesicht zu waschen. Immer ist es Nacht. Und immer tut sie das, seit dem Blut, seitdem wächst ihr dieses Fell. Sie hat nachgesehen, den nackten Fuß am Badewannenrand. Der Fleck, der keiner ist, ist größer geworden, er raucht wenn man ihn berrührt. Und er brennt. Eine Flamme so groß wie die aus einem Feuerzeug. Sie streift ihren Finger hindurch, verbrennt sich. „Geh weg! Verschwinde!“, flüstert sie der Flamme zu. „Du Freak“ , antwortet die Flamme. „Du gefangener Freak!“ Isa erstickt sie mit einem Handtuch.
Tag
„Die habe ich für dich gekauft. Für den Ball“, sagt Tommy am Schulspint und hält das Armband mit der magentafarbenen Blume fest. Isa nimmt sie nicht und denkt nur an das Fell. Das rauchende etwas das um das fünffache gewachsen ist. Und das spricht. Das sich nun in ihrer Handfläche ausbreitet. Sie zieht die Hoodiärmel darüber.
„Ich kann nicht“, sagt sie. So gerne würde sie. Aber was wenn Tommy das Fell entdeckt? Sie kann es ihm nicht sagen. Sieht die Enttäuschung in seinen Augen. Und wie er sich abwendet. Stumm spricht, Worte die Isa jetzt nicht verstehen will. Wie er sie an der Schulter berrührt, und sie nicht antwortet und er fast schreit. Und dann geht er. Er geht einfach. Es tut so weh. Und alle starren Isa an. Freak! Freak! Freak!
Nacht
Isa begegnet ihm nur noch selten. Meistens in abgedunkelten Zimmern, wenn er seine Zeit für sich braucht, lesend und rauchend im Sessel sitzt und die Scheinwerfer von vorbeifahrenden Autos durch die Schalousien streifenartige Muster aus Licht an die dunklen Tapeten werfen. Diesmal hat sie ihn aufgesucht. Sie braucht Geld für einen Kurs ausserhalb der Schule. Isa`s Hände zittern als sie in der Tür steht. Er glaubt ihr nicht. Die Lügen einer kleinen Hure. Sieht sie nicht an.
Wolf
Isa wirft sich in ihr Kissen und weint.
„Warum weinst du Freak? Ich kann dir helfen.“ Es kommt aus ihrer Hand. Vor ihren verwässerten Augen verschwimmt die Flamme. Sie ist das einzige was die Dunkelheit in ihrem Zimmer aufhellt. Bis auf ihr Gesicht ist ihr ganzer Körper mit Fell bewachsen. Isa´s Geschrei hat noch nie etwas gebracht, sie nicht vor ihm gerettet und es hat das Fell nicht aufgehalten immer wilder zu wachsen, immer dichter zu werden. Verzweifeltes Jammern dringt aus ihrer Kehle.
„Was bist du?“
„Ich bin Freiheit. Warum wehrst du dich? Ich bin alles was du hast!“
Über den Flur dringen Geräusche. Isa merkt es zu spät als Tommy die Tür aufstößt und das Licht anknipst.
„Isa! Ich liebe…“ Er verstummt mitten im Satz als er die Flamme sieht. Und reißt die Augen weit auf. Verstört und gefesselt. Isa springt vom Bett, erstickt das Feuer. Aber es klappt nicht.
„Was ist das?“, fragt er. Sie weiß keine Antwort.
„Tommy…“
„Was stimmt denn nicht mit dir?“
„Verschwinde!“, ruft Isa. Während das Fell über ihr Gesicht sprießt. Und sich Reißzähne durch ihr Zahnfleisch bohren. Die Flamme in ihrer Hand größer wird und sich über ihren Arm züngelt, ihren Köper erobert. „Verschwinde!“, kreischt sie. Und Tommy rennt.
„Ich bin Freiheit“, singen die Flammen im Chor. Und hinter Tommy erhellt das Inferno des Mädchens das er liebt das ganze Haus.
Nacht
Es war nicht schwer. Nicht mal annährend so anstrengend wie Isa gedacht hat. Sein Genick brach in ihrem Kiefer so leicht wie die Äste die sie mit Gisela immer gesammelt hatte, um ein Lagerfeuer zu machen. Und sie zusehen durfte wie kleine Funken zu einem Feuer wurden.
Sie überraschte ihn in seiner Zeit für sich, lesend und ahnungslos, im grautapezierten Zimmer mit den Autolichterstreifen die über sie beide flossen wie Blut. Während sie ihn mit züngelnden Flammen und spitzen Pranken packte. Überraschter Gesichtsausdruck zur Decke, als er seinen letzten Atmezug zog. Und sie von ihm abließ, ihn verbluten ließ, so wie er sie jede Nacht ihrer Kindheit berraubt hatte.
„Siehst du“, sagt die Flamme in ihrer Hand. „Du bist frei.“
Die Tote steht plötzlich hinter ihr. Starr vor Angst. Isa oder was auch immer sie jetzt ist, knurrt. Fletscht die Zähne und sagt: „Lauf.“
Tag
Isa zieht die Haustüre zu. Sie hat alles gepackt. Die Leichen verbrannt. In der Einfahrt wartet der Porsche ihres ersten Opfers. Er hat seine Autos geliebt. Isa hat vor damit so weit zu fahren wie sie kann. Sie lädt ihre Taschen in den Kofferraum.
„Willst du weg?“ Es ist Tommy. Sie erkennt seine Stimme. Dreht sich um.
„Wo ist denn…dein Fell?“, grinst er.
„Ich kann es kontrollieren“, sagt sie und streift sich die Haare zurück. „Seit Kurzem…“
Genauer: Seit er tot ist. Aber das denkt sie nur.
Tommy wippt auf den Fußsohlen, die Hände in den Hosentaschen. „Und wo willst du hin?“
Sie sieht zum Auto. „Egal.“
Er sieht sie fragend an.
„Hast du eine Idee?“, sagt sie.
Tommy lächelt verlegen und überlegt. Und dann nickt er.