Maries Enten

Maries Enten

9. April 2022 0 Von Nessa Hellen

Maries Enten ist eine dystopische Kurzgeschichte und entstand durch eine Schreibanregung in der VHS Augsburg mit Katharina Maier. Drei Dinge sollen in einem Text vorkommen. Eine rote Ampel, eine himmelblaue Quietsche-Ente und ein zu früh gefallenes Blatt. Folgendes kam dabei heraus:

Paula wartet in der Empfangshalle. Das IPhone vibriert in ihrer Hand und sie nimmt ab.

„Wo bleibst du?“

„Ich stehe an dieser Ampel, die alle drei Sekunden auf rot schaltet. Aber ich bin fast da“, sagt Michael und hört in Paulas Stimme die Nervosität.

„Beeil dich“, sagt sie nachdrücklich, obwohl sie weiß, das Michael nie unpünktlich ist.

„Sobald hier grün ist, schalte ich um auf zweihundert Sachen. Versprochen.“

Paula lächelt. „Hast du sie dabei?“

„Natürlich.“

Ihre Stimme wird sanft. Sie freut sich und weiß das Michael jetzt auch lächelt. „Bis gleich.“

Erleichtert sinkt sie zurück in die Lehne des Sessels, der eher in einem Hotel stehen könnte, als in einer Klinik. Aber das Gesamtbild stimmt. Der Empfangssaal ist in goldenes Licht getaucht, der Tresen aus Marmor und das lederne Mobiliar auf Hochglanz poliert. Im Boden spiegeln sich die Lampen an der Decke und der Kronleuchter über dem kniehohen Mahagonitisch. An den tapezierten Wänden hängen überall Bildschirme auf denen Werbesendungen laufen. Eine Klinik sieht anders aus, riecht anders und die Pfleger sehen nicht aus wie das Personal aus einem fünf Sterne Hotel. Aber das ist auch kein gewöhnlicher Krankenhausaufenthalt. Vor den verglasten Außenwänden tobt ein Sommergewitter. So ein mieses Wetter, denkt sie kurz. Der Regen wirbelt Staub auf, so dass man kaum etwas erkennen kann. Hoffentlich findet Michael schnell einen Parkplatz.

Paula streichelt über den prallen Bauch unter ihrem Kleid. Versucht einen Herzschlag zu spüren, umkreist behutsam den nach außen gedrückten Bauchnabel mit dem Zeigefinger. „Dein Bauch sieht aus wie eine Orange“, hat Michael mal gesagt. „So rund, dass man ihn schälen und hineinbeißen will. Das ist ein gutes Zeichen.“

Paula muss wieder lächeln. Bei ihrer ersten Schwangerschaft sah ihr Bauch nicht aus wie eine Zitrusfrucht. Ob das den Unterschied macht? Von jetzt ab würde das nie wieder passieren. Kein Mensch soll so etwas durchmachen. Vor allem sie nicht. Ein vierjähriges Kind, dass an Leukämie erkrankt und viel zu früh gestorben ist, sieht aus wie ein grau-blaues Bündel aus lebloser Haut und aufgequollenen Augen. Eher wie eine verfaulte Pflaume. Das weiß Paula leider zu gut. Sie versucht an die Zukunft zu denken. In der Psychotherapie wurde ihr klar, dass man die Vergangenheit loslassen muss, um weiter leben zu können. Sie ist so weit.  

Ihre Applewatch zeigt ihr die Wehen-Abstände an. Es wird Zeit. Schmerzen hat Paula dank dieser Technik keine. Sie hat sich den Schmerzfrei-Chip nach der schwierigen ersten Geburt von Marie einsetzen lassen. Laut Hersteller eine Garantie auf eine komplikationsfreie Geburt. Jetzt ist sie froh, dass Michael ihr die Watch inklusive Chip zu Weihnachten geschenkt hat.

Als sie von der Watch aufsieht kommt Michael strahlend auf sie zu. Er sieht so gut aus in seinem Anzug. Über seiner Schulter hängt die Umhängetasche mit den Utensilien für das Neugeborene. Seine Haare sind ein wenig nass. Sie steht auf, so gut es geht und legt ihre Arme um seinen Hals. Ihre Stirn berührt seine. „Es ist soweit“, flüstert er.

„Endlich“, sagt sie. Hinter Michael steht die Empfangsfrau vom Tresen mit einem Rollstuhl.

„Herr und Frau Brink?“, sagt sie mit sanfter erwartungsvoller Stimme.

„Folgen Sie mir bitte.“

Paula setzt sich und wird von Michael am Tresen vorbei geschoben. Ihre Begleiterin hält eine Schwingtür auf und führt sie weiter durch einen Flur, der endlos scheint. Paula presst ihre Hand in Michaels. Er drückt zurück. Die Begleiterin bleibt vor einem Aufzug stehen.

„Frau Doktor Gothart empfängt Sie jetzt.“

Mit einem unnatürlichen Lächeln schließt die Empfangsdame die Aufzugstür. Michael und Paula sehen sich verstohlen an. Sie können sich das Lachen kaum verkneifen, als der Aufzug sich in Bewegung setzt und nach unten fährt.

„Ich kann mich wahrscheinlich nie an diese Bots gewöhnen“, sagt Michael.

„Sie machen gute Arbeit. Diese hier sehen wenigstens aus wie Menschen.“

„Das macht sie nicht weniger unheimlich.“

„Du hast sie doch dabei oder?“

„Die Ente?“

Sie sieht zu ihm hoch und er seufzt. Aber er zögert nicht eine Sekunde. Und gibt Paula die versprochene hellblaue Quietsche-Ente aus der Umhängetasche mit der Marie immer in der Badewanne geplanscht hat.

Paula hält sie wie ein kostbares Geschenk in beiden Händen.

„Das ist unglaublich“, flüstert sie.

„Ja in der Tat“, bestätigt Michael.

„Denkst du sie wird genauso aussehen wie Marie?“

„Das werden wir gleich erfahren.“

Der Aufzug stoppt. Die Schiebetür rastet ein. Michael schiebt Paula in das kalt blau schimmernde Licht. Erst dann erkennen sie die technischen Geräte. Die Reifen quietschen auf dem sterilen Laminat. Eine schlanke Frau im weißen Kittel steht am Ende des Raumes vor einem riesigen Work-Board. Rechts von ihr befindet sich eine verstellbare Liege unter einer Op-Lampe. Am Kopf und am Fuß der Liege sind zwei weibliche Bots positioniert die unaufhörlich lächeln. Die Liege hat wie bei einem gewöhnlichen Frauenarzt verstellbare Beinschienen.

Das erste Mal hatten sie Frau Dr. Gothart vor neun Monaten in den oberen Räumen der Klinik in einem schlichten, aber doch schick eingerichteten Büro getroffen und ihre Wünsche besprochen. Pläne auf Papierrollen niedergeschrieben, Skizzen angefertigt, Computergrafiken erstellt. Michael und Paula waren sich fast immer einig und doch mussten sie damals Unterschiede zu ihren Vorstellungen feststellen. Aber mit Frau Dr. Gothart fiel es ihnen leicht sich letztendlich zu einigen. Danach wurde ihnen Blut und Speichel abgenommen um vorhandenes Erbgut zu sichern und entsprechend zu verändern. Jeder Schritt wurde virtuell festgelegt. Und die wichtigste erste Erinnerung hinzugefügt. Die hellblaue Quietsche-Ente. Diese sollte dort anknüpfen wo alles begann. Denn sie wollten nicht irgendein Baby. Sondern ihre Marie. Braune Augen, dunkle Haare und die gleiche Stupsnase wie Paula sie hat. Michaels Sinn für Humor und Paulas Mathematik-Kenntnisse. Dazu das Verkaufstalent des verstorbenen Großvaters väterlicherseits und eine Prise Kreativität und Solidarität der Oma mütterlicherseits. Andere Genschlüssel wurden hinzugefügt die es weder in Paulas noch in Michaels Familie je gegeben hatte. Immerwährende Positivität und Freundlichkeit, lange Beine, makellose Haut, ein Gesicht mit hohen Wangenknochen und perfekter Symmetrie, kräftige Haare und starke Nägel. Paula meinte zuerst, dass das Aussehen von Marie nicht so wichtig sei, wurde aber von Dr. Gothart und Michael überstimmt. Hübsche Menschen hätten es eben leichter im Leben. Aber das wichtigste und da waren sie sich alle sofort einig, ein krebsfreies Leben und eine lebenslange Garantie auf eine gesunde Psyche. Lästige Angewohnheiten, das Suchtpotential von Paulas Vater zu Alkohol und Tabak wurden eliminiert. Alles sollte perfekt sein.

„Viele machen das jetzt“ , hat Paulas Mutter am Sterbebett in der Onkologie gesagt, als Paula Zweifel gehabt hat. Sie streichelte Paula das letzte Mal über das Haar.

„Die Welt wird ein perfekter Ort sein mein Liebling.“ Dabei ging ihr Blick zu dem Kirschbaum vor dem Fenster. „Nichts wird mehr sein wie ein zu früh gefallenes Blatt.“ Manchmal sagte Paulas Mutter im Medikamentenrausch Dinge die keinen Sinn ergaben, aber das war in Ordnung für Paula, solange sie noch ihre Hand halten durfte.  

„Sind Sie so weit, Frau Brink?“, fragt Frau Dr. Gothart und geht auf Paula zu. Sie umgreift ihr Handgelenk und mustert die Applewatch. Prüft ihren Puls und hört den Bauch ab.

„Bitte legen Sie sich jetzt auf die Liege Frau Brink. Ich denke es ist besser nicht mehr allzu lange zu warten.“

Michael hilft Paula auf die Liege. Sie platziert ihre Oberschenkel und liegt mit gespreizten Beinen vor den fröhlichen Bots. Frau Dr. Gothart geht an den Monitor. Die Sensoren auf der Liege melden, dass das Baby in der richtigen Position liegt. Sie entschieden sich trotz der Möglichkeit von einem reinen Labor-Baby für eine natürliche Geburt. Denn Paula liebt es schwanger zu sein. Sie mag es Leben in sich zu tragen und zu spüren, denkt dabei an üppiges Obst und den Vollmond. Es ist das eine Ding das sie rund und weiblich macht. So wie nichts anderes auf der Welt.

In einer Hand hält sie Maries Ente, die andere drückt Michaels Hand. Er lächelt zufrieden. Eine so vollkommene Frau wie sie findet er nie mehr. Die Bots beginnen die Geburt einzuleiten. Paula muss nichts weiter tun, als still zu liegen und abzuwarten.

Marie platziert die Entchen in den Regalen. Sie hat die Plätze schon vor zehn Minuten per Augenmaß ausgemessen, aber sicher ist sicher. Gleich muss sie den Laden aufsperren und die ersten Kunden werden kommen.

„Die perfekten Kunden kaufen eben nur perfekte Dinge in perfekter Position“, sagt sie zu sich selbst, oder zu den Enten.

Als Marie mit dem dritten Mal zurechtrücken fertig ist, geht sie einen Schritt zurück und begutachtet ihr Werk. Zufrieden dreht sie sich um und klatscht zweimal in die Hände. Die Verriegelung der Ladentür schnappt auf, die Schutzwand fährt hoch. Die Kameras beginnen zu summen. Von draußen weht eine Ladung Sand gegen die Außenfassade aus Panzerglas. In der Sommerzeit sind die Sandstürme besonders heftig.

„Hey Leute! Was für ein schöner Morgen! Ob heute jemand kommen wird?“, sagt sie zu einer der Kameras an der Decke und winkt dabei. „Dann schauen wir mal wie fleißig ihr wart.“ Sie klatscht nochmal, nur einmal und vor ihrem Gesicht öffnet sich ein virtueller Bildschirm. „50.000 Likes seit heute Nacht!“, ruft sie. „Ihr seid echt fame.“ Sie tippt in die Luft und der Bildschirm verschwindet.   

„Wie geht es euch so? Gestern hat es fünfundvierzig Grad im Schatten gehabt. Angenehm, wenn man es mit letzter Woche vergleicht! Oder was sagt ihr? Schreibt es in die Kommentare!“

Wie jeden Morgen bevor die heiße Sonne sich die Stadt nimmt, fahren die Schattenspender aus. Zielstrebig geht Marie hinter den Tresen und sieht von dort aus zu, wie sich die Sonne verdunkelt. Das Surren des Motors ist sogar durch das Panzerglas zu hören. Über den strahlend blauen Himmel ziehen sich die riesigen Stahlplatten. Eine Warnmeldung tönt über der abgedunkelten Stadt. Bewohner aus Fleisch und Blut sollen unbedingt in ihren Schutzräumen bleiben. Wegen Wasserknappheit wird das Wasser abgedreht. Zu trinken gibt es erst wieder in den Nachtstunden. Ausgang ist ab Mitternacht erlaubt.

Die Menschen interessieren sich für Maries Enten nur aus der Ferne. Aber die Bots sind gute Kunden. Und Menschen lieben es ihnen beim Kaufen zu zusehen. Marie versteht nicht ganz wieso das so ist, aber das ist egal solange sie ihren Nutzen daraus zieht. Die Maschinen der Armee, die von einigen Menschen so gefürchtet werden, holen sich ihren Bedarf auf ihren Patrouillen durch die Mittagshitze. Marie hat nie darüber nachgedacht etwas anderes herzustellen. Ihre Eltern waren nicht begeistert. Sie wirkten überhaupt immer erschrocken über das was Marie tat oder über das was sie nicht tat. Sie konnte es ihnen nicht recht machen. Sie nannten sie lieblos oder eigensinnig. Zu verschroben und zu verkopft. Dabei tut Marie das was sie liebt. Und kann nie genug davon bekommen. Sie zeichnet und fotografiert ihre blauen Lieblinge, reiht sie nebeneinander und hintereinander. Gerade nach Tagesform. Tote Dinge sind ihr die Liebsten. Denn sie sind perfekt. Sie stellt sie in verschiedenen Materialen her, aus Stoff, Plastik und Metall, aber auch Patronen oder Knochen. Je nachdem was sie in ihren nächtlichen Streifzügen in den Trümmern findet die der letzte Krieg mit den Maschinen um das Wasser zurück gelassen hat. Und sie musste zu nachvollziehbaren Mitteln greifen um ihren perfekten Plan auch perfekt ausleben zu können. Seit Paula und Michael sie nicht mehr eingrenzen geht es ihr gut. Es musste einfach sein.

Vor dem Laden landet ein Patrouillen-Schiff. Sie erkennt sofort wer sie besucht. Bot Blenk steht vor der Eingangstür und wartet bis die äußere Schutzwand hinunterfährt, damit die Hitze draußen bleibt. Sobald geschehen öffnet sich die innere Schiebetür und schließt sofort als Blenk im Verkaufsraum steht.

„Seht mal wer da ist!“, sagt sie in die Kamera und flötet: „Hallo Blenk, was darf es heute sein?“

Der Bot, der nicht lebendig ist und deshalb perfekt, sagt mit seiner Blech-Stimme: „Eine Ente bitte.“

„Welche?“

Blenk kommt mit knirschenden Gelenken zum Tresen. „Die Stoffente.“

Marie greift im Regal hinter ihr nach dem Modell und gibt es dem Bot. Er bezahlt mit einem Wasser-Gutschein den Marie heute Abend einlösen wird. Sie bedankt sich und schenkt Blenk mit einem Lächeln ein in Plastik verpacktes Öltuch dazu. Das mögen sie besonders gern.

„Auf das nichts mehr ist wie ein zu früh gefallenes Blatt“, sagt Marie zum Abschied. Das war es was Paula gesagt hat, als sie in einer roten Lache aus Blut neben Michael lag. Die aufgerissenen Augen zur Decke gerichtet. Und Marie, die lächelnd mit einem Messer über ihnen stand, gefiel was Paula da sagte. Auch wenn sie nicht ganz verstanden hat was es bedeutet. Aber es war perfekt, weil es das letzte war das Paula zu ihr sagte, bevor Paula perfekt wurde.  

Der Bot widerholt, bevor er das Geschäft mit der Ente verlässt:  „Auf das nichts mehr ist wie ein zu früh gefallenes Blatt, Fräulein Brink.“

„Ihr habt es gehört Leute“, sagt Marie und wirft ihre langen dunklen Haare über die Schulter. Sie öffnet nochmal den Bildschirm.

„Auf das nichts mehr so ist wie ein zu früh gefallenes Blatt“, antworten ihre Follower.