Perspektive

Perspektive

30. August 2020 0 Von Valentina Baumgartner

Diese kurze Erzählung ist aus einer Schreibanregung von Katharina zum Thema Erzählperspektive entstanden.

 

Perspektive

 

Das Geräusch von berstendem Holz ließ ihn unruhig durch den Wald streichen.

Kleine Schimmer Licht woben sich durch das dicke Dach der Blätter. Wann immer sie auf seine Haut trafen, ließen sie ihn kurz in ihrem hellen Schein verschwinden. Er liebte dieses Gefühl von Leichtigkeit und Wärme. Konnte stundenlang von Lichtkegel zu Lichtkegel springen.

Aber nicht heute. Denn das Geräusch scheuchte ihn auf. Es fuhr durch seinen Körper wie ein Blitz. Bei jedem weiteren Brechen, Knarzen und Knacken zuckte er zusammen. Wurde kleiner und kleiner. Und er eilte weiter in die Richtung aus der dieses Donnern kam.

 

„Lass. Mich. Hier. Raus!“

Sein Brüllen war inzwischen mehr ein Keifen. Sein Hals so heiser, dass er seine eigene Stimme kaum mehr erkannte. Sein Schädel dröhnte, aber er preschte dennoch weiter; mit seinen Hörnern voraus. Er kniff die Augen zusammen kurz vor dem Aufprall.

Das Holz knarzte, ein Teil des Fleisches der alten Eiche gab nach, so dass seine Hörner für einen kurzen Moment dort stecken blieben.

„Lass.“ Er riss an ihnen.

„Mich.“ Er machte einen Satz nach hinten, als er sich wieder befreit hatte.

„Hier raus!“ Schrie er der Eiche entgegen, bevor er ein weiteres Mal auf sie zu setzte.

 

So schnell er konnte hetzte er über die krummen Wurzeln. Zwischen Ästen und Blättern dieser Bäume hindurch, die seit Jahrhunderten in seiner Obhut lagen. Immer weiter bergauf bis zur Spitze des Silberhügels. Erdgeister waren hoffnungslos verbunden mit der Natur um sie herum. Blühte und spross sie, wuchsen auch die Erdgeister. Wurde sie verletzt, entwurzelt, schrumpfen sie, bis sie nur noch ein kleines Flimmern im Schatten des Geästs waren.

 

Dieser Wald war ein Ungeheuer. Alles gemacht, um die Bewohner in seiner Mitte einzulullen. Bis sie mit schlaftrunkenen Augen direkt in sein gehässiges Maul galoppierten. Zu oft hatte er es schon miterlebt, wie ein Mitglied seines Stammes langsam verging. Zuerst schliefen sie etwas länger. Dann genossen sie gelegentliche Pausen am plätschernden Bach. Dann schlossen sie ihre Augen für immer, legten ihren Kopf auf ihre Hufen. Aber er war aufgewacht.

 

Unter der großen Eiche, die ihre Äste wie dunkle Schwingen über sie hielt, trafen ein zitternder Erdgeist und ein brüllender Zentaur aufeinander.

Wer im Recht lag, war schwer zu sagen. Wer im Unrecht noch viel mehr.

Doch der Wald wächst weiter. Ruhig, bedacht, immerwährend streckt er seine Wurzeln und Äste. Bis er die Knochen des Zentauren bedeckt und den Lebensfunken des Geistes eingefangen hat.