Zeit aus den Fugen

Zeit: Irgendwann in den 1990er Jahren

„Junge, was wollen die Leute von mir?“

Trotz des Donnerns der Brandung war das Zittern in der Stimme seines Vaters zu hören. Der Wind blies Michael Schneeflocken ins Gesicht und schob dunkle Wolken über den Himmel. Sein alter Herr zuckte, als Michaels alter Schulkamerad Uwe ihm seine Dienstwaffe an die Schläfe drückte. Neben den beiden stand ein Typ Mitte Zwanzig. Ein Milchgesicht mit der Statur eines Türstehers, der ein automatisches Gewehr auf Michael gerichtet hatte.

„Lass meinen Vater gehen, Scheißbulle“, sagte Michael, der mit seiner Pistole auf Uwe zielte. „Er hat nichts mit der Sache zu tun.“

„Ach Michael.“ Uwe seufzte. „Immer noch so wütend? Wie damals. Schmeiß einfach die Tasche mit dem Geld rüber.“

„Das geht nicht, Arschloch“, sagte Michael.

„Aber Junge …“

„Waffe runter!“ Der Türsteher betonte die Worte einzeln.

„Michael, wenn dich deine Schüler hören könnten.“ Uwe bedeutete dem Türsteher ruhig zu bleiben.

„Papa, dieser Bulle und sein Kumpel mit dem Milchgesicht, die knallen uns ab, sobald sie das Geld haben.“

„Aber was denn für Geld, Junge?“

„Banküberfall.“ Uwe schmunzelte, verringerte aber nicht den Druck der Waffe auf die Schläfe von Michaels Vater.

Verflucht! Dass ausgerechnet Uwe ihm nach all den Jahren drauf gekommen war, hätte Michael nicht gedacht. Und er hatte Uwe schon immer gehasst für seine schnippische Art. Ein hinterhältiger Typ, der damals nach der Schule zur Polizei gegangen war – wohin sonst? Als einziger der Klasse, während sie anderen alle von der Weltrevolution geträumt hatten. Mindestens. Eine Windböe fuhr Michael ins Gesicht.

„Die Kreissparkasse in Schleswig“, fuhr Uwe fort. „Eine hysterische Bankangestellte; hunderttausend Mark. Und zwei tote Kollegen.“

Lange her – eine andere Zeit. Der Türsteher war vermutlich noch nicht mal geboren gewesen. Damals war die Sache eine große Nummer in den Medien gewesen.  Aber Michael musste schleunigst etwas tun, sonst waren sie erledigt.

„Aber Junge, was hast du denn damit zu tun?“, stammelte sein Vater. „Es hieß doch immer, das war …“

„Genau“, sagte Uwe. „Ihr feiner Sohn und seine Freunde waren das, Herr Friedrich, und ich habe erst letzte Woche den Beweis entdeckt. Und kapiert, dass er das Geld immer noch versteckt hat.“

„Und du willst damit dein mickriges Beamtengehalt aufbessern.“ Michael war sich sicher, dass es nicht das erste krumme Ding war, das Uwe als Bulle drehte. Die Frage war: Wieviel wusste der Türsteher von der Sache damals?

„Es ist definitiv einträglicher, als dich einfach nur zu verhaften. Und es macht mehr Spaß.“

Michael zielte zwischen Uwes Augen. Er würde schnell sein müssen; der Türsteher war es mit Sicherheit. Eine Welle donnerte an den Strand.

„Aber, die Sparkasse …“ Sein Vater sah aus, als hätte ihn der Schlag getroffen. Er hatte nie kapiert, wie ernst es Michael gewesen war, als er über das Schweinesystem geschimpft hatte. Jetzt brüllte er seine Fassungslosigkeit heraus:

„Das war doch die RAF!“

Dem Türsteher fiel die Kinnlade herunter. Michaels Zeigefinger krümmte sich.

 

Zum Text:

Wieder einmal ein Text, der in einer Schreibwerkstatt von Katharina Maier entstanden ist. Vorgegeben waren u.a. das Thema – Zeit aus den Fugen – Ort und Jahreszeit. Meine Assoziation dazu war: Wenn dich deine Vergangenheit einholt.