Vanishing Twin

Vanishing Twin

24. Juni 2024 0 Von Christine M. Brella

Zwillinge. Ein Thema, das mich seit früher Kindheit fasziniert. Mein neun Jahre altes Ich hat sein sorgsam gehütetes Taschengeld in Zwillingspuppen investiert.

Als ich mit vierzehn die ersten Zeilen meines Romans schrieb, haben mich zwei Themen so gepackt, dass mich das Projekt zwanzig Jahre bis zum fertigen Buch nicht mehr losließ: Mädchen, die sich in einer Männerwelt behaupten – und (getrennte) Zwillinge. Nie hätte ich damit gerechnet, dass das Thema für mich plötzlich ganz persönlich wird. Mein Ultraschalltermin im April hätte reine Routine sein sollen. Bis meine Frauenärztin plötzlich anfing zu lachen. „Das sieht nach zwei aus!“ Waaaas??!!! Nach dem ersten Schock brach ich in halb irres Lachen aus – schließlich ist meine große Tochter erst siebzehn Monate alt und ich weiß mittlerweile wie sehr ein einzelnes Kind zwei Eltern an die physischen Grenze führen kann!

Zwillinge. Wen faszinieren Zwillinge nicht? Zwei kleine Menschen, die sich von Anfang an gegenseitig haben. Die sich neun Monate lang den Platz im Buch der Mutter teilen. Eineiige Zwillinge. Die gleichen Gene und doch verschieden. Zwillinge, die noch als Babys getrennt wurden und von der Existenz des anderen nichts wissen – die ähnliche Berufe erlernen, ähnliche Partnerschaften eingehen und sogar ihren Kindern gleiche Namen geben. Zweieiige Zwillinge. Ein bester Freund vom ersten Moment. Die gleichen Startbedingungen und doch ein ganz anderer Mensch.

Ein paar Fakten, die ich mir seit April angelesen habe: In Deutschland ist im Schnitt jede 85. Geburt eine Zwillingsgeburt, davon sind ca. zwei Drittel zweieiig und ein Drittel eineiig (sprich mit identischem Erbgut). Nur ein Prozent der eineiigen Zwillinge teilen sich eine Fruchtblase und haben damit besonders risikoreiche Startbedingungen. Und dann gibt es noch das Vanishing Twin Syndrom. Ein Zwilling verschwindet im ersten Trimester der Schwangerschaft – bzw. er entwickelt sich nicht weiter oder wird absorbiert. Dafür, dass ein Zwilling die Geburt nicht erlebt, habe ich Zahlen zwischen 5% und 60% gelesen. Kein Wunder. So genau weiß niemand wie viele Schwangerschaften wirklich mit zwei Embryonen beginnen.

Zwillinge – besonders auch verlorene oder getrennte Zwillinge – bieten auch Stoff für spannende Romane und Filme. Zumindest „Das doppelte Lottchen“ ist jedem ein Begriff und hat bis heute dutzende Neuinterpretationen. Als Kind habe ich zum Beispiel „Eins und Eins macht Vier“ mit den Olsen-Twins geliebt. Shakespeare hat das Thema mit „Die Komödie der Irrungen“ mit einem doppelten Zwillingspaar schon im sechzehnten Jahrhundert ad absurdum geführt – und ich habe die Theateraufführung im Shakespeare’s Globe Theatre in London trotz der Sprachbarriere bis zur letzten Minute genossen! (Gibt es eigentlich ein literarisches Pendant zur Verwechslungskomödie? Mit weniger Fokus auf Komödie und dafür auf Abenteuer und bitte mit wenig Drama und ohne Mystery – DAS wäre genau MEIN Genre!).

Gerade habe ich die (Hörbuch-)Serie „Alanna – Das Lied der Löwin“ beendet und sie hat mich (fast) genauso in den Bann gezogen wie damals in meiner Kindheit. Zwillinge, die den Platz tauschen und dazu ein Mädchen, das sich verkleidet zum Ritter ausbilden lässt – genau mein Ding! Als Film habe ich „The Accountant“ gefeiert – zwar kommen darin keine Zwillinge vor, dafür aber alles andere, das ich an dem Thema liebe: Spannende Action, getrennte Geschwister, die eng verbunden sind und eine unvorhergesehene Wendung, die daraus resultiert.

Hatte ich erwähnt, dass mich das Thema zu meinem eigenen Roman inspiriert hat? 😉 In „Die Brücken zur Freiheit – 1864“ haben sich Nick und Annie, noch nie gesehen und stehen dazu auf verschiedenen Seiten im amerikanischen Bürgerkrieg. Trotzdem spiegeln sich ihre Geschichten und ihre Schicksale sind enger miteinander verknüpft als irgendjemand ahnt. Was wohl passiert, wenn sie sich endlich gegenüber stehen? Alles kann ich natürlich nicht verraten 😉

Zwillinge. Was das wohl für eine Frau im Wilden Westen bedeutet hat? Tatsächlich war dieses Element schon seit Jahren (oder sogar Jahrzehnten?) für Roman 2 geplant. Doch seit meinen eigenen Erfahrungen mit einem Baby habe ich so viel Mitleid mit meiner Protagonistin, dass ich ihr das fast nicht mehr antun möchte. Was das für mich persönlich bedeutet, kann ich jetzt aus erster Hand berichten. Direkt nach dem ersten Ultraschall und der Zwillingsbotschaft, habe ich die Vorstellung betrauert, mit einem einzelnen Baby im Arm zweisame Kuschelstunden zu genießen. Dann ist mir das große Glück bewusst geworden, dass unsere Familie gleich auf fünf anwächst! Zwei kleine Wunder, die unser Leben bereichern und auf den Kopf stellen werden!

Danach hatten wir vier Wochen, um das ganze logistisch durchzudenken. Ein Kinderwagen für drei Kinder unter 2 Jahren – da gibt es gar nicht mal so viele Möglichkeiten. Eine Wand wollten wir ins Wohnzimmer eh früher oder später einziehen für ein zweites Kinderzimmer – also jetzt früher und die Zwillinge müssen sich halt ein Zimmer teilen. Brauchen wir ein neues Auto? Kann man für die erste Zeit eine Haushaltshilfe beantragen? Ein Wiedereinstieg in meinen Beruf (und auch in Hobbys wie Schreiben, Singen und Sport) rückten plötzlich in unabsehbare Ferne. Zwillingstragen gibt es – check! Dann komme ich wenigstens die Treppe im Haus mit allen Kindern gleichzeitig rauf und runter. Was macht man eigentlich mit einem zweijährigen Kind im Winter, wenn man in jedem Arm ein Baby hat und immer eines schreit? Am Ende haben wir uns schwer getan, die Füße still zu halten und nicht sofort in die Umsetzung zu gehen.

Die Frauenärztin hatte uns darauf vorbereitet, dass im ersten Drittel der Schwangerschaft noch viel passieren kann, obwohl beide Pünktchen schon Herzschlag hatten. Im Ratgeber „Zwillinge“ vom Trias-Verlag, das uns meine Eltern geschenkt haben, habe ich dann auch vom Vanishing Twin Syndrom gelesen und die je nach Quelle doch recht hohen Wahrscheinlichkeiten recherchiert. Im nächsten Ultraschall, vier Wochen nach dem ersten, dann der zweite Schock: Tatsächlich hat ein Zwilling mit neun Millimetern aufgehört zu wachsen. Dem anderen geht es aber gut und ist jetzt schon über zehn Zentimeter groß! Ein Wechselbad der Gefühle! Trauer, Freude, Verwirrung – am Ende bleibt ein Verlustgefühl und das große Glück über das kleine Wunder, das da in meinem Bauch heran wächst und beim Ultraschall munter winkt.

Wahrscheinlich bleibt mir jetzt nichts anderes übrig, als zumindest meine Protagonistin in Roman 2 in das Abenteuer Zwillinge zu stürzen. Oder was meint ihr? Ob wohl auch im Buch ein Zwilling verschwindet? Es bleibt spannend!