Die Brücke

Die Brücke

21. November 2021 1 Von Valentina Baumgartner

Eine kurze Geschichte über eine nächtliche Hinrichtung bei einer Brücke.

Kalter Nieselregen bohrte sich in meine Wangen. Ich rieb meine Hände, hauchte warme Luft hinein. Bald würde ich sie brauchen, da durften sie nicht steif vor Kälte sein. Ich sah hinauf zur Brücke. Der Henker und die beiden Beamten standen immer noch dort, blickten hinab auf den Gehängten, der mittlerweile bewegungslos am Strick baumelte.

„Ist er endlich hinüber?“, hörte ich einen der Beamten fragen.

Der Henker nahm seinen Spieß und bohrte dem Gehängten in den Hals, knapp unter der Schlaufe. War das wirklich notwendig? Ein Gurgeln erklang. Blut sprudelte hervor, benetzte die Lumpen, die der Hingerichtete trug. Im Schein der Lampe schimmerte das Blut fast schwarz. Der Beamte, der gefragt hatte, wandte sich angeekelt ab, der andere beugte sich etwas vor.

„Heißt das, er lebt noch?“

„Der hat nicht mehr gezuckt, der ist erledigt.“

Ich atmete erleichtert aus. Malek hatte es ihnen schwer genug gemacht. Sie standen schon seit Ewigkeiten hier. Der Kirchturm hatte zwei Mal geläutet, bevor er endlich aufgehört hatte zu zappeln.

„Also gut.“ Der Beamte rückte seinen schwarzen Hut zurecht. „Hiermit erkläre ich das Urteil vollzogen.“ Die drei Gestalten wandten sich zum Gehen. Endlich.

Sie überquerten die Brücke, erreichten die Stadtmauer und das Tor wurde für sie geöffnet. Knarzend schloss es ich wieder hinter ihnen. Der Schrei einer Krähe durchzog die Nacht. Die Vögel suchten ihr Aas. Jetzt war ich alleine hier draußen vor der Stadt.

Ich beobachtete weiter die Stadtmauer, denn ich wartete auf die Nachtwachen, die auf ihrer Runde bald diese Seite der Stadt erreicht haben mussten. Tatsächlich stach das tänzelnde Licht der beiden Laternen bald durch den Regenschleier hindurch. Am Tor hielten die Wachen kurz an.

„Hat er sich jetzt ausgehangen?“, fragte eine der Wachen.

„Sie sind gerade rein, ich denke schon“, antwortete der Torwart.

„Endlich! Ich hatte schon fast Mitleid mit dem armen Teufel.“

„Sie hätten ihm auch einfach das Genick brechen können, es ist unmenschlich, ihn so zappeln zu lassen.“

Wenn sie nur wüssten.

Die Stadtwachen liefen wieder weiter und der Schein ihrer Laternen entfernte sich langsam, bis sie hinter der ersten Kurve verschwunden waren.

Langsam kroch ich aus meinem Versteck. Die Felsen unter der Brücke hatten mich zwar gut verborgen, aber sonderlich bequem waren sie nicht gewesen. Ich schüttelte meine Beine aus und zog die dunkle Maske über Mund und Nase. Lautlos pirschte ich mich zu Malek hinüber.

Ich griff nach dem Seil. Meine kalten Finger waren fast taub, daher entglitt es mir beim ersten Mal. Laut krächzte ich wie eine Krähe, um das Geräusch zu übertönen, das das Seil machte, als es wieder zurückschnallte. Nervös blickte ich hinüber zur Stadtmauer. Hörte der Torwart etwas Verdächtiges, würde er durch seine Luke blicken. Ich war mir nicht sicher, ob er mich von dort aus sehen könnte.

Es blieb ruhig. Das Krächzen einer echten Krähe kam näher. Zwei Vögel saßen am Brückenkopf und beobachteten mich und ihre Beute. Ich schauderte.

Ein weiteres Mal umfasste ich das Seil und spannte meine Muskeln an. Dieses Mal würde ich vorsichtiger sein. Ich stemmte meine Arme und Beine gegen die Brüstung und begann zu ziehen, immer darauf bedacht, das Seil nicht am Stein entlang schleifen zu lassen. So hob ich Malek an, bis sein Kopf das untere Ende der Brücke erreichte. Verbissen hielt ich ihn auf dieser Position. Meine Muskeln bäumten sich dagegen auf, aber ich würde ihn nicht fallen lassen. Sein lebloser Körper baumelte hin und her. Vom erneuten Druck auf seinen Hals sprudelte leise noch etwas Blut aus seiner frischen Wunde.

„Hilf mir wenigstens“, zischte ich zu ihm hinunter.

Sie hatten ihn ziemlich zugerichtet. Sein Gesicht war blau angelaufen, sein verbliebenes, linkes Auge weit aufgerissen. Es musste wehgetan haben.

Kurz zögerte ich. Was wenn…? Ein Stich in meiner Brust zeigte mir, dass mein Herz gerade einen kurzen Aussetzer hingelegt hatte. Ich betrachtete sein Gesicht genauer. Das Auge war so starr.

Ich keuchte leise. Das konnte nicht sein. Es war unmöglich. Tränen krochen mir in die Augen. Beinahe hätte ich das Seil losgelassen. „Lass mich nicht alleine…“, murmelte ich, „Bitte.“

Malek blinzelte.

Dieser Idiot!

 Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen. „Ich verarsche dich nur, Amila. Kein Grund zu weinen.“ Seine Stimme war heißer, das Seil drückte auf seine Luftröhre.

„Ich lass dich hier hängen. Schau doch selbst, wie du mit den Krähen fertig wirst!“

„Nicht so laut!“, flüsterte er. Er streckte seine Arme in die Höhe und packte den Stein über ihm. „Zieh weiter.“

Grober als zuvor zog ich an seinem Seil. Er konnte nicht so schnell hinterher klettern und röchelte ein bisschen. Geschah ihm Recht.

Schließlich schwang er sich lautlos über die Brüstung. Wir standen uns gegenüber. Fünf Jahre hatten wir uns schon nicht mehr gesehen. Und jetzt veräppelte er mich. Ich überlegte kurz, ob ich mich einfach abwenden und gehen sollte.

Malek kam mir zuvor. Wie selbstverständlich griff er nach einem meiner Dolche, den ich in der Innenseite meiner Weste versteckt hielt. Ich blieb starr stehen. Schnell schnitt er damit seinen Strick durch. Als ich keine Anstalten machte, meinen Dolch wieder entgegenzunehmen, steckte er ihn selbst wieder zurück in meine Weste.

„Ich habe dich vermisst“, flüsterte er.

„Das war deine dreizehnte Hinrichtung. Wann wirst du es endlich lernen?“, entgegnete ich ihm.

„Die vierzehnte, erst vor zwei Jahren wurde ich geköpft. Ich musste mich selbst aus meinem Grab ausbuddeln, weil du nicht da warst.“ Wieder grinste er.

„Vollpfosten.“

Malek machte einen Schritt auf mich zu und breitete seine Arme einladend aus. „Sind wir wieder Freunde?“

Ich zögerte. Wiederwillig ließ ich mich auf die Umarmung ein. Er roch nach Blut und Schweiß. Sein stoppeliger Bart stupfte unangenehm an meiner Wange. Er war dürrer als ich ihn in Erinnerung hatte. Sie hatten ihn vor seiner Hinrichtung wohl ganz schön ausgehungert.

„Hast du mich nicht auch vermisst?“, flüsterte er.

„Doch“, gab ich zu.

Er gluckste.

„He, was ist da los?“

Wir schraken beide auf.

„Wo ist der Hingerichtete?“

Die Wachposten waren von ihrer Runde zurückgekehrt. Ihre zwei Laternen hatten auf der Stadtmauer inne gehalten. Von ihrem Aussichtspunkt aus konnten sie wahrscheinlich nur sehen, dass der Gehängte verschwunden war. Die beiden Lichter setzten sich in Bewegung. Ihre Kettenhemden rasselten. „Öffne das Tor!“, rief einer der Wachen dem Torwart zu.

Malek lachte laut auf und packte meine Hand. „Lauf!“, rief er.

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