Lindwurm

Lindwurm

Vor einiger Zeit habe ich die Kurzgeschichte Die Brücke geschrieben. Die beiden Hauptcharaktere darin haben mir so gut gefallen, dass ich eine weitere Geschichte über sie schreiben wollte. Das ist die Erzählung, wie sie sich kennen gelernt haben.

„Hast du Angst?“ Einer der Piraten war zu mir nach vorne gekommen. Es war der Alte, dem ein Auge fehlte. Er hatte mich die letzten Tage schon häufiger besucht auf meinem einsamen Posten an der Spitze des Schiffs. Er lächelte.

Ich traute ihm nicht.

Ein paar größere Wellen rollten unter dem Schiff hindurch. Der Alte hielt sich an der Reling fest, um nichts ins Straucheln zu kommen, dann wandte er sich wieder mir zu.

„Ich bringe dir warmen Rum. Der wird dich aufwärmen.“ Er hob den Krug hoch, den er in der freien Hand hielt.

Ich beschimpfte ihn, aber meine Worte wurden gedämpft von dem Knebel, den sie mir verpasst hatten. Er ignorierte es, beugte sich herunter zu mir.

Sie hatten mich an ihre Gallionsfigur gefesselt. Eine grob geschnitzte Meerjungfrau auf deren gewölbten Rücken ich lag. Seit drei Tagen hing ich hier knapp über dem grauen Meer, dessen eisige Wellen immer wieder zu mir hinaufzüngelten. Seit einiger Zeit konnte meine Finger und Zehen nicht mehr spüren.

Der Pirat entfernte meinen Knebel. Ich spuckte nach ihm. „Idiot! Arschloch!“, rief ich. Bessere Schimpfworte fielen mir nicht ein. Man hatte mich schließlich als feine Dame erzogen.

Er lachte über meine Wut, führte mir wortlos den Becher an meine Lippen. Der warme Dampf des Getränks hinterließ ein Kribbeln auf meiner tauben Haut. Der Rum duftete nach Zimt. Widerwillig nahm ich einen Schluck. Der warme Alkohol brannte meinen Hals hinunter. Ich schüttelte mich.

Der Alte hielt mir den Krug weiterhin hin. „Trink ruhig aus.“ Dann fügte er hinzu: „Wir sind bald da.“

„Ich kann euch nicht helfen!“, versuchte ich es noch einmal zu erklären. Sie hatten die falsche Person entführt. Bevor sie mir den Knebel in den Mund gesteckt hatten, hatte ich ihnen das immer wieder entgegengebrüllt.

Der Pirat lachte ein weiteres Mal, kippte den Becher so, dass mir der Rum über Mund, Kinn und Nase lief und brachte mich damit zu schweigen. Ich hustete.

 Er lehnte sich weiter zu mir vor. „Soll ich dir etwas verraten?“ Sein Auge folg über die Wellen vor uns, hinauf zu den schroffen Klippen, die sich vor dem Schiff auftürmten. Irgendwo auf dieser kahlen Insel, die wir nun schon seit Tagen umrundeten, war angeblich ein Schatz versteckt. So viel hatte ich inzwischen von ihnen erfahren. Das Problem war, dass dieser von einem schrecklichen Lindwurm bewacht wurde.

Und da kam ich ins Spiel. Meine Magie sollte das Monster abwehren.

Es war ein Plan ohne Sinn und Verstand.

Der Pirat richtete seinen Blick wieder auf mich, grinste mir verschwörerisch zu und flüsterte: „Ich weiß, dass du uns nichts nutzen wirst. Wir werden gleich alle von dem Lindwurm gegrillt.“

Weshalb freute er sich so darüber? Ich war auf einem Schiff Wahnsinniger gelandet.

Oder konnte es sein, dass…?

Gerade wollte ich ihm etwas entgegnen, da ertönte ein Kreischen, wie ich es noch nie gehört hatte. Ich warf meinen Kopf zur Seite, um besser zu sehen können, wo es hergekommen war.

Da war es. Das Biest. Klauen in den kalten Felsen geschlagen, lederne Schwingen halb zum Flug ausgestreckt. Sein Kopf auf unser Schiff gerichtet. Seine Augen beobachteten uns hell funkelnd. Ein zweites Mal riss es seinen Mund auf zu seinem schaurigen Schrei. Ein Glühen tief im Inneren seines Schlunds.

„Verdammt! Endlich haben wir dich gefunden!“, schrie der Alte über mir. Begeistert breitete er seine Arme aus. Er schleuderte den halbvollen Krug in die Wellen vor uns, dem Ungeheuer entgegen.

Die anderen Piraten kamen über das schaukelnde Deck zu uns gerannt. Er legte seine Arme um zwei seiner Kumpanen. Sie lachten, sprangen wild auf und ab. „Wir werden reich!“

„Dreht sofort um! Dreht um!“, schrie ich, versuchte mich von meinen Fesseln zu befreien.

„Weshalb hast du ihren Knebel entfernt, Malek?“ Der Kapitän war nun ebenfalls nach vorne gekommen, schnalzte missbilligend mit der Zunge, als er mich sah.

„‘tschuldigung.“ Der Alte hob demonstrativ den Knebel hoch, beugte sich schnell zu mir hinunter, um ihn mir wieder anzulegen, während die anderen Piraten dem Drachen weiter freudig zujubelten.

„Wir haben keine Angst vor dir, Wurm!“, schrie der Kapitän, zückte seinen Dolch und reckte ihn triumphierend in die Luft. Seine Männer taten es ihm gleich. Der Drache kreischte.

„Sollten sie aber haben“, flüsterte mir der Alte verschwörerisch ins Ohr, als er den Knebel hinter meinem Kopf verknotete. Ein paar Strähnen meiner Haare verfingen sich in der Schlinge. Ich ignorierte das Ziepen, als er sie mir ausriss.

Stattdessen betrachtete ich ihn genauer. Sein linkes Auge war ausgestochen worden. Eine Narbe, die aussah, als hätte man ihm einen spitzen Gegenstand direkt durch die Augenhöhle getrieben. Unter seinem Halstuch spitzte eine weitere Narbe hervor. Man hatte versucht, seine Kehle durchzuschneiden.

Der Pirat grinste mich an, als wäre ihm bewusst, nach was ich suchte. Er schob seine Ärmel etwas nach oben. Auch seine Unterarme zierten Narben. Brandnarben. Als wären sie schon einmal in Flammen gestanden.

„Schön, dich endlich kennenzulernen“, murmelte er.

Ich schüttelte unwirsch meinen Kopf. Das konnte nicht sein.

Unter einem weiteren markerschütternden Schrei stieß sich der Drache von den Felsen ab.  Der Schlag seiner Schwingen ließ das Wasser unter uns aufwirbeln. Wellen schwappten bis zur Reling hinauf, durchnässten mich aufs Neue.

Der Alte zückte seinen Dolch und durchschnitt meine Fesseln. „Ist Unsterblichkeit nicht schöner, wenn man nicht alleine ist?“

Ich stürzte ab, versuchte erst gar nicht, mich an der glitschigen Gallionsfigur festzuhalten. Der Pirat sprang mir hinterher. Die Haut meines Rückens jaulte auf, als ich auf die Wasseroberfläche klatschte. Meine Narben waren noch nicht verheilt.

Das graue Meer schwappte über mich. Durch die wilden Wellen konnte ich das Leuchten der Flammen sehen. Ich hielt die Luft an, schloss die Augen.

Immerhin würde ich nicht wieder verbrennen.

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