Baukasten Kurzgeschichte

Baukasten Kurzgeschichte

16. Januar 2022 0 Von Katharina Maier

Wie baut man eine Kurzgeschichte ?

Eine echte Kurzgeschichte ist viel mehr als eine kurze Geschichte. Was heute ganz unbekümmert als Bezeichnung für eine Erzählung verwendet wird, die nicht sehr lang ist, funktioniert in ihrer ursprünglichen Form nach strengen Regeln. Diese muss nicht jeder Schreiberling befolgen, der oder die einfach nur eine kurze Erzählung verfassen möchte. Aber ich habe festgestellt, dass die klare Form der klassischen Kurzgeschichte uns einen roten Faden in die Hand geben kann, um kompakte Erzählungen zu strukturieren. Und die Grundidee kann eine wichtige Orientierungshilfe geben, um zu verhindern, dass wir uns beim Schreiben kurzer Texte verzetteln.

Der Spannungsbogen einer Erzählung

Die klassische short story gilt als eine der anspruchsvollsten literarischen Formen. Man nennt sie auch die kleine Schwester der Novelle. Was bedeutetet das?

Das heißt, dass sie in ihrem Aufbau festen Regeln folgen muss. Werden diese Regeln nicht eingehalten, darf sich der Text im Grunde auch nicht Short Story nennen – ich benutze hier absichtlich die englische Bezeichnung, um das, was hier gemeint ist, vom heutigen Alltagsgebrauch des Begriffs „Kurzgeschichte“ abzugrenzen.

Um zu veranschaulichen, was eine Short Story von einer anderen Erzählung unterscheidet, schauen wir uns zunächst einmal den typischen Spannungsbogen einer regulären Erzählung an – das, was jeder wahrscheinlich noch aus der Schule unter dem Begriff „Erzählmaus“ kennt.

Spannungsbogen einer regulären Erzählung

Bei einer regulären Erzählung steigt die Spannung ganz allmählich, aber stetig an, bis sie einen Höhepunkt findet und dann relativ schnell, aber doch auch relativ sanft ausklingt. Der Text besteht aus drei Teilen: einer Einleitung, in der die Situation eingeführt und die Spannung aufgebaut wird; einem Hauptteil, der allein der schrittweisen Spannungssteigerung dient; und dem Schluss mit Höhepunkt und Auflösung.

So weit, so gut, nicht wahr?

Der Spannungsbogen einer Kurzgeschichte

        

Spannungsbogen einer klassischen Short Story

Der Spannungsbogen einer klassischen Kurzgeschichte funktioniert aber ganz anders. Die Short Story fängt mitten im Geschehen an, steigt also direkt in die Action, und damit auch in die Spannung ein. Gleich am Anfang haben wir somit einen kleinen Spannungsgipfel. Dann sinkt die Spannung erst einmal ein wenig ab, nur um dann wieder steil anzusteigen. Auch hier findet die Spannung natürlich ihren Höhepunkt, aber die Geschichte klingt in der Regel nicht aus, sondern kommt gleich nach dem Spannungsgipfel zum Schluss. Manchmal hört die Short Story sogar direkt am Höhepunkt auf.

Kurz gesagt: Abrupter Anfang, abruptes Ende und zwischendrin ein steiler Spannungsanstieg – das macht den Aufbau einer Kurzgeschichte aus.

Als Nächstes möchte ich mir mit euch die einzelnen Teile der Short Story näher anschauen.

Anfang der Kurzgeschichte

Wie wir gesehen haben, braucht eine Short Story keine lange Einleitung. Im Gegenteil: Eine Kurzgeschichte beginnt ganz plötzlich und mit einem spannenden Moment. Man nennt das auch einen Anfang „in der Mitte der Dinge“.

Beispiel

Ein Donnergrollen ließ Kira zusammenzucken. Sie blickte hinauf in den Himmel, der eben noch strahlend blau gewesen war. Nun zogen sich pechschwarze Wolken über dem Berg zusammen und es wurde eiskalt. Wie konnte sich das Wetter so schnell ändern?

Anstatt

Gut gelaunt verließ Kira das Haus. Es war der zweite Tag der Sommerferien, und sie wollte ihre beste Freundin Antonia besuchen. Der Weg war etwas weit, weil Antonia am anderen Ende des Dorfes wohnte als Kira, aber bei dem schönen Wetter war das kein Problem. Kira schwang sich auf ihr Fahrrad, das sie zum 13. Geburtstag von ihrer Oma bekommen hatte und radelte los. Sie winkte den Menschen zu, denen sie begegnete, weil es so ein schöner Tag war. Einmal hielt sie sogar an, um mit der alten Tante Gertrud ein paar Worte zu wechseln, die ihr früher immer Süßigkeiten zugesteckt hatte. Dann stieg sie kräftig in die Pedale, um den Berg hinaufzuradeln, auf dessen Gipfel Antonias Häuschen lag. Plötzlich hörte Kira ein Donnergrollen und zuckte zusammen. Beunruhigt blickte sie hinauf zum Himmel

Die Kurzgeschichte beginnt mitten im Geschehen. Sofort wird es spannend und es „passiert“ etwas. Es ist nicht so wichtig, wer genau Kira ist und wie sie zu dem Berg gekommen ist. Wichtig ist erst mal nur das, was passiert.

Hauptteil der Kurzgeschichte

Eine klassische Kurzgeschichte ist etwa 500 bis 2000 Wörter lang. Man soll sie „auf einen Zug“ durchlesen können.

Nach dem plötzlichen Anfang kann man sich nun etwas Zeit lassen. Es wird erstmal ein bisschen ruhiger in der Geschichte. Man beschreibt die Situation und die Figuren.

In der Regel kommen in einer Kurzgeschichte nur wenige Figuren vor. Es kann sogar nur eine Figur sein. Mehr als fünf sollten es nicht sein. In der Regel konzentriert man sich bei den Figuren auf eine prägnante Eigenschaft (mutig, schüchtern, arrogant, gelangweilt …).

Eine Short Story zeigt gewöhnliche Menschen in ungewöhnlichen Situationen.

Die Kurzgeschichte läuft auf einen einzigen spannenden Moment zu (Gipfel im Spannungsbogen).

Etwa kurz vor der Mitte der Geschichte soll die Spannung wieder ansteigen. Meist passiert das, indem die Situation immer rätselhafter, bedrohlicher oder auch lustiger wird.

Der Höhepunkt besteht aus einer unerwarteten Wendung. Mit einem einzigen Ereignis findet die Spannung ihren Höhepunkt und wird aufgelöst.

Wie macht man das?

Entscheide dich für einen „Grundton“ in deiner Geschichte (mysteriös, unheimlich, amüsant). Diese Stimmung führst du mit dem Anfang ein. Die erste Situation, mit der die Geschichte beginnt (Kira erschrickt vor dem Donner), zeigt, welche Stimmung in der Geschichte herrscht. Diese Stimmung baust du dann weiter auf und machst sie im Laufe des Hauptteils immer extremer (mysteriöser, unheimlicher, amüsanter).

Am „Gipfel“ der Geschichte kannst du die Stimmung zu ihrem Höhepunkt treiben. Z. B.: Was vorher amüsant war, gipfelt in einem letzten Witz; der Höhepunkt zu einer rätselhaften Situation ist ein noch größeres Rätsel. Du kannst aber auch einen Wendepunkt schreiben, an dem die Stimmung komplett umschlägt: Eine unheimliche Situation erweist sich als harmlos und die Stimmung ändert sich zu Erleichterung. Oder: Die ganze Zeit war die Geschichte amüsant, mit dem Wendepunkt stellt die Hauptfigur aber fest, dass der Hintergrund der Situation sehr ernst ist.

Schluss der Kurzgeschichte

Eine Kurzgeschichte fängt ganz plötzlich an und hört abrupt wieder auf. Du kannst die Geschichte schon kurz nach dem Höhepunkt/Wendepunkt verlassen. Meist endet die Short Story offen. Der Leser ist aufgefordert, selbst weiterzudenken.

Du kannst die Kurzgeschichte aber auch mit ein paar Sätzen ausklingen lassen. So gibst du dem Leser noch ein paar Gedanken mit auf den Weg.

Wie fange ich an?

Bevor du mit dem Schreiben beginnst, kannst du dir folgende Fragen überlegen:

  • Was möchte ich erreichen?
  • Was soll meine Kernaussage sein?
  • Wie gestaltet sich die Grundstimmung?
  • Wie möchte ich das mitteilen?
  • Welche Charaktere sollen vorkommen? Was für Eigenschaften haben sie?
  • Wo soll die Geschichte spielen und zu welcher Zeit?
  • Was soll mein Spannungsgipfel sein? Will ich einen Höhepunkt oder einen Wendepunkt erreichten?
  • Was für eine Stimmung soll die Kurzgeschichte vermitteln  bzw. am Ende hinterlassen?

Ich habe die Erfahrung gemacht: Sich diese Fragen zu stellen, hilft ungemein, sich und seine Geschichte bei kurzen Textformen zu konzentrieren und Wildwüchse in der Handlung zu vermeiden. Die klassische Short Story setzt auf simple Elemente, einen klaren Erzählstrang und einen geradlinigen Handlungsaufbau.

Selbst wenn man sich nicht so streng an die Regeln des Aufbaus hält, wie es in der Ursprungsform der Short Story gedacht gewesen war – die Grundideen hinter der klassischen Kurzgeschichte können Autor*innen helfen, die eigenen Gedanken zu fokussieren und einen roten Faden für kurze Textformen zu finden. Ihr könnt diese Schablone auch nutzen, um eure Plot-Ideen für kurze Texte zu prüfen und zu verhindern, dass sie ausufern. So lauft ihr nicht mehr Gefahr, dass ihr am Ende mit einem Text von 50 Seiten dasteht, wenn ihr eigentlich nur 5 Seiten hattet schreiben wollen! 🙂

Buchtipp

Einem tollen Praxistest wurde das Konzept der Kurzgeschichte durch das P-Seminar „Kunst & Kreatives Schreiben“ des Rudolf-Diesel-Gymnasiums in Augsburg unterzogen. Die 15 Schüler und Schülerinnen haben ein Kurzgeschichtenbuch mit Texten und Bildern zusammengestellt, das mich echt beeindruckt hat. Ich durfte das P-Seminar zweimal als Expertin besuchen, beraten und unterstützen und war begeistert, was aus meinen Anregungen zum Thema „Kurzgeschichte“ in den Händen der Schüler*innen entstanden ist.

Das illustrierte Kurzgeschichtenbuch „Ich träume …“

„Ich träume …“ gibt es auf amazon als E-Book für 0,99 Euro zu kaufen, und ich kann das kleine Büchlein wirklich nur empfehlen! Ich möchte abschließen mit den Worten, die ich den Schüler*innen des P-Seminar in einem kleinen Brief geschrieben habe:

Das erste Wort, das mit einfällt, um sie alle zu beschreiben, ist „Intensität“. Eure Geschichten sind sehr intensiv. Anstatt einen traumhaften Schleier über die Realität zu legen, nutzt Ihr Eure Texte und Eure Bilder, um etwas über die Wirklichkeit auszusagen. Was dieses Etwas ist, unterscheidet sich natürlich von Text zu Text und Bild zu Bild. Aber ich finde, dass Ihr in jedem Eurer Kunstwerke den Leser und Betrachter zwingt, der Welt in die Augen zu schauen.

Überall tun sich in Euren Texten Abgründe auf – in der Welt, in den Menschen, zwischen den Menschen und zwischen Wirklichkeit und Traum. Manchmal werden diese Abgründe überbrückt – durch Fantasie, menschliche Bindungen und Hoffnungen für die Zukunft. Manchmal bleiben sie aber auch einfach bestehen – unerklärt, erschreckend und eine Herausforderung.

„Ich träume …“ ist überraschend dunkel geraten. Mich hat das jedenfalls überrascht. Aber gerade deswegen finde ich Eure Werke so gelungen. Weil sie nicht unbedingt das sind, was man erwartet. Und sie sind auch schön: voll mit intensiven Farben, spannenden Gedanken, originellen Wendungen, einzigartigen Blickwinkeln und starken Sprachbildern.

Euer Buch bringt mich zum Nachdenken, und das ist gut. Das ist Kunst. Gut gemacht, sagt die Lektorin.