Der König tanzt

Der König tanzt

10. März 2019 0 Von Julia Dietz

Der König soll ein mürrischer Mann sein, haben sie gesagt. Phil hat denen aber noch nie geglaubt. Wie immer geht sie um Punkt 4:30 Uhr vor allen anderen durch den langen Flur und zählt ihre Schritte. 99 Schritte von ihrem Zimmer bis zur Glastür und 99 Schritte zurück zu ihrem Zimmer. Bei Schritte 67 Richtung Glastür bemerkt sie die angelehnte Tür von Zimmernummer 3.05. Das Zimmer des Königs.

Die Tür ist nie angelehnt, sondern immer geschlossen um diese Uhrzeit. Vorsichtig nähert sie sich und guckt durch den Türspalt. Zuerst sieht sie nur ein leeres Zimmer, aber dann hört sie ein Geräusch, als würde jemand ein Lied vor sich hin summen. Kurz darauf erscheint der König in ihrem Blickfeld. Phil starrt auf die geöffnete Tür. Noch niemand hat den König seit seiner Ankunft vor drei Wochen so gesehen.

Phil ist verwirrt. Ihr Puls steigt. Bei welchem Schritt war sie jetzt? Sie spürt wie sich etwas um ihren Brustkorb klammert. Sie darf jetzt keine Panikattacke bekommen. Kopfsausen. Langsam geht sie rückwärts ein paar Schritte zurück. Ihr Herz rast. Und alles nur, weil der König getanzt hat. Phil versucht einen Fixpunkt zu finden. Die Zimmernummer. 3.05. Schritt Nummer 67. Das Sausen im Kopf ist immer noch da, aber der Puls wird langsam ruhiger. Einfach weitergehen Richtung Glastür. 68. 69. 70. Einfach niemandem davon erzählen. 71.72.73…97.98.99. Glastür erreicht. Phil dreht sich um. Das Sausen im Kopf ist fast verschwunden.

*

„Welcher Tag ist heute?“

„Schau doch auf deiner Tagesration nach.“

Friedel Castro schiebt den Plastikdeckel zur Seite.

„Mittwoch.“ Friedel Castro heißt eigentlich nicht Friedel Castro. Er soll Kommunist sein. Sagt zumindest der Häuptling. Aber der Häuptling hält jeden für einen Kommunisten.

„Was hast du heute im Angebot?“

„Zwei blaue und eine gelbe. Und du?“

„Die Enzyklopädie von Tavor“

Phil schluckt alles auf einmal, aber die Tabletten bleiben ihr im Hals stecken. Sie hustet. Friedel Castro haut ihr auf den Rücken, in der Hoffnung, dass sich das verkeilte Teil in der Speiseröhre löst.

„Hast du den König heute schon gesehen?“

Phil schüttelt den Kopf. Warum der König überhaupt hier ist, weiß keiner. Die Vermutung ist, der gleiche Grund warum alle hier sind.

„Guten Morgen, die Damen und Herren. Wie geht´s Ihnen heute?“

Die Heuschrecke kommt zu ihrem Tisch.

„Zeigen Sie mal Ihre Daybox.“

Zwei Plastikboxen rasseln auf den Tisch.

„Hmhm, sehr schön. Wo ist denn der Herr Erdmann?“

Normalerweise sitzt der König mit am Tisch. Friedel Castro zuckt mit der Schulter. Phil starrt auf ihre Daybox.

„Na dann werden wir Ihn wohl mal suchen müssen.“

Phil beugt sich zu Friedel sobald die Heuschrecke verschwunden ist.

„Ich hab ihn heute doch schon gesehen.“ Ihre Stimme ist nicht lauter als ein Windhauch, der über den Tisch weht.

„Ich dachte, du weißt nicht wo er ist?“

„Doch. Er ist in seinem Zimmer.“

Phil macht eine Bewegung mit ihrem Finger, damit er noch näher herankommt.

„Er hat getanzt.“

„Nein!“ Friedel reißt erstaunt die Augen auf.

„Doch! Ich hab´s gesehen.“

Friedel schaut nervös umher. Die Heuschrecke ist bereits verschwunden. Unauffällig versuchen Phil und Friedel aus dem Raum zu verschwinden, was so gut wie unmöglich ist, da man hier nichts unauffällig machen kann.                                                                                      Sie huschen den Flur entlang. Die Heuschrecke ist bereits am anderen Ende des Ganges. Sie wird vor ihnen am Zimmer ankommen.

„Guten Morgen Herr Erdmann. Wie fühlen Sie sich heute? Alles gut? Sie haben ja noch gar nicht ihre Tabletten genommen. Jetzt aber Zackzack. Sie wissen doch, was sonst kommt? Und das wollen wir doch beide nicht.“

Der König schweigt daraufhin.

Phil und Friedel haben sich im Flur an die Wand gelehnt und versuchen durch die offene Tür zu lauschen.

„Hier haben Sie ein Glas Wasser und jetzt runter damit.“

Der König schweigt immer noch.

„Ich geh jetzt ins Stationszimmer und komm in zehn Minuten zurück. Wenn Sie die Tabletten dann nicht genommen haben, gibt´s die Spritze.“

Schritte nähern sich. In Friedel und Phil bricht Panik aus. Keine Nische wo sie sich verstecken können. Sie lehnen sich an die Wand und versuchen unverkrampft auszusehen.

„Was machen sie beide denn hier?“ Die Heuschrecke schaut Phil und Friedel skeptisch an.

„Wir… wir unterhalten uns nur.“ Friedel steht da mit dem Ellbogen an der Wand und der Hand an seinem Kopf.

„Versuchen Sie doch mal den Herrn Erdmann dazu zubringen seine Tabletten zu nehmen.“

Die Heuschrecke watschelt den Gang hinunter.

Phil und Friedel schauen ins Zimmer. Der König sitzt auf seinem Thron am Fenster und schaut hinaus.

„Hoheit, wir bitten um Eintritt.“ Friedel salutiert im Türrahmen.

Der König winkt nur müde ab.

Die drei Tabletten liegen neben dem Glas Wasser unangerührt auf dem Tisch.

„Hm, tauschen geht leider heute nicht. Hab meine schon genommen.“

„Ich auch.“

„Wie ist der Lagebericht?“

„Eine Kaltfront zieht über Osten herein. Ich kann den Schnee schmecken.“

Vom Flur her sind Schritte zu hören.

„Die zehn Minuten sind noch gar nicht um?!“, flüstert Phil.

In der Tür erscheint der Häuptling und marschiert zum Tisch.

„Der König und seine Narren.“

„Närrin.“

Der Häuptling schaut Phil an. „Kommst du mir jetzt auch noch so? Bist du etwa auch so ein Kommunist?“

Dann blickt er feindselig zu Friedel.

„Du und deine Kommunisten“, gibt Friedel gelangweilt zurück.

„Wir haben ein Problem. Drei Tabletten und kleiner zehn Minuten bevor die Heuschrecke zurückkommt.“

Phil, Friedel und der Häuptling schauen erst sich und dann den König an. Der König sieht teilnahmslos aus dem Fenster.

„Jeder nimmt eine! Bei drei. Eins!“

„Aber was ist das denn überhaupt?“

„Keine Ahnung, ist doch egal.“

„Nee, ist nicht egal. Wenn sich das nicht meiner Medikation verträgt?!“

„Bist du ein Mann oder eine Maus, Schröder?“

Das linke Auge des Häuptlings zuckt.

„Also bei drei. Eins! Zwei!“ Friedel und Phil greifen sich eine Tablette.

„Ja aber…“

Auf dem Flur sind schlurfende Schritte zu hören.

„Nix aber! Die Heuschrecke kommt! Drei!“

Friedel, Phil und der Häuptling stecken sie sich in den Mund. Trockenes Runterschlucken.

„Na Herr Erdmann, haben Sie Besuch?“

Die Heuschrecke kommt zum Tisch.

„Sie haben Ihre Tabletten ja doch genommen. Sehr gute Entscheidung.“

Als die Heuschrecke das Zimmer verlassen hat, schleicht sich Phil auf Zehenspitzen zur Tür. Das letzte Mal stand die Heuschrecke noch auf der anderen Seite und hat gelauscht.

„Weg ist sie.“

„Bestimmt bekomme ich davon Herzflattern!“

„Schlimmer als ein sediertes Hirn kann´s wohl nicht werden, also reiß dich zusammen, Schröder.“

Der König sieht in die Runde. „Wir verschwinden von hier!“

Phil, Friedel und der Häuptling tauschen nervöse Blicke aus.

„Und wie soll das gehen? Hier ist noch niemand rausgekommen.“

„Ich werde bestimmt nicht hier drin sterben. Ich habe einen Plan! Und ihr werdet mir helfen.“

„Und wie ist der Plan? Einfach rausspazieren?“

„Natürlich nicht! Also, es ist ganz einfach….“