Die Erfindung der Weihnachtsgeschichte

Die Erfindung der Weihnachtsgeschichte

12. Dezember 2021 0 Von Daniel Bühler

Wann und wo wurde Jesus geboren? Und was hat es mit der Weihnachtsgeschichte auf sich, mit dem Weihnachtsstern, den heiligen drei Königen, der Jungfrauengeburt und all dem?

Um das Jahr 90 n. Chr. schrieb ein gelehrter Mann irgendwo in Syrien ein Evangelium über Jesus von Nazareth. Er glaubte fest daran, dass Jesus der Erlöser und Messias gewesen war. Sein Evangelium – wörtlich eine frohe Botschaft – schrieb er auf Griechisch, der Weltsprache im östlichen Mittelmeerraum. Spätere Christen nannten den Mann Matthäus, weil sie glaubten, der gleichnamige Jünger Jesu habe das Evangelium geschrieben. Der eigentliche Verfasser ist anonym geblieben; hier wird er aber der Einfachheit halber mit seinem traditionellen Namen bezeichnet. Das Matthäus-Evangelium ist das erste der vier Evangelien in der Bibel. Es ist nicht das älteste, gilt aber meist als das wichtigste Evangelium.

Der Evangelist Matthäus war Mitglied einer Gemeinde sogenannter Judenchristen. Das waren Juden, die an Jesus als den Messias glauben und sich taufen ließen, die aber noch zahlreiche jüdische Gebote, wie etwa die Sabbathruhe, befolgen. Judenchristen sahen sich selbst als Jesus-Anhänger und als Teil des jüdischen Volkes.

Die Neugier des Publikums

Matthäus muss verzweifelt gewesen sein. Denn die Gläubigen in seiner Gemeinde haben ihn vermutlich mit Fragen nach der Geburt ihres Heilands bombardiert. Aber er wusste fast nichts über die Geburt Jesu. Und brauchte nun eine einleuchtende Geschichte.

Die historische Situation

Die Gemeinde befand sich in schweren Konflikten mit dem traditionellen Judentum. Im Jahr 70 n. Chr. hatte Rom einen jüdischen Aufstand niedergeschlagen. Jerusalem und der Tempel waren zerstört worden und 600 000 Menschen sollen umgekommen sein. Pharisäische Schriftgelehrte forderten als Ersatz für den verlorenen Tempel und den Opferkult die Konzentration auf die Thora, den fünf Büchern Mose mit zahlreichen Vorschriften für fromme Juden. Sie verlangten die absolute Einhaltung aller jüdischen Gebote und wollten dies auch gegen Abweichler wie die getauften Juden durchsetzen. Auch einige Judenchristen fragten sich, ob ihr Weg noch der richtige war.

In dieser Situation schrieb Matthäus sein Evangelium. Sein Ziel war es, den Zweiflern in den eigenen Reihen zu zeigen, dass Jesus der erwartete und verheißene Messias war, dass diejenigen, die an ihn glaubten, das wahre Israel darstellten.

Matthäus war überzeugt davon, dass Jesus ganz in der jüdischen Tradition stand und dass sich in ihm die Weissagungen des Alten Testaments erfüllten. Zu diesem Zweck wollte er auch von Jesu Geburt erzählen und damit zugleich die Neugier der Gläubigen befriedigen. Die waren an immer mehr Details über das Leben ihres Heilands interessiert.

Allerdings stand in keinem der beiden Texte, anhand derer er das Leben Jesu rekonstruieren wollte, auch nur ein Wort über die Geburt Jesu. Die Mehrheit der Forscher nimmt an, dass Matthäus das Markus-Evangelium (entstanden um 70) und eine Sammlung von Aussprüchen und Gleichnissen Jesu, die man heute die Logien- oder Spruchquelle „Q“ nennt (entstanden zw. 40 und 70), als Hauptquellen benützte.

Legenden und Geschichten

Jesus musste in Nazareth geboren worden sein, denn schließlich sprachen alle Christen und das Markus-Evangelium von ihm als Nazarener. Doch daneben existierten vermutlich weitere, mündliche Überlieferungen, manche waren kaum mehr als Gerüchte oder Legenden – und doch scheint Matthäus an eine geglaubt zu haben: Marias Empfängnis vom heiligen Geist. Und damit ließ Matthäus seine Geburtsgeschichte beginnen:
„Maria war mit Josef verlobt; noch bevor sie zusammengekommen waren, zeigte sich, dass sie ein Kind erwartete – durch das Wirken des heiligen Geistes.“

Für die Menschen der Antike war eine göttlichen Vaterschaft nichts Außergewöhnliches. Der Biograph Plutarch berichtet etwa, dass Zeus eines Nachts einer Königstochter namens Olympias „in Gestalt einer Schlange beigewohnt“ haben solle. Neun Monate später kam Alexander der Große zur Welt.

Es ist zweifelhaft, dass Matthäus eine solche Geschichte als direktes Vorbild genommen hat; und doch gibt es eine Parallele, nämlich in der Wirkung, die er erzielen wollte. Die Vaterschaft des heiligen Geistes und die Jungfräulichkeit Marias haben jedem antiken Leser gezeigt: dieses Kind war ein Auserwählter und Sohn Gottes. Denn wie wollte man sich ein solches Wunder anders erklären?

Eine Jungfrau?

Matthäus fand eine alttestamentliche Weissagung, die ihn darin bestätigte. Jesaja hatte prophezeit, dass der Messias von einer Jungfrau geboren werden sollte (7,14). Die Prophezeiung diente also der nachträglichen Bestätigung dessen, was Matthäus bereits vorher wusste bzw. glaubte. Daher ist es auch unerheblich, ob das hebräische „alma“, das bei Jesaja steht, besser mit „junge Frau“ anstatt mit „Jungfrau“ übersetzt wird. In der griechischen Übersetzung der alten jüdischen Schriften, der Septuaginta, die Matthäus benützte, stand „Parthenos“, Jungfrau – beide Übersetzungen sind wohl möglich. Die Jungfräulichkeit Marias beruht also nicht auf einem eventuellen Übersetzungsfehler.

Die letzten Zweifel an der Jungfrauengeburt wollte der Verfasser des sog. Protoevangeliums des Jakobus (2. Jahrhundert) beseitigen, das nicht in den biblischen Kanon aufgenommen wurde. Hier tritt eine Frau namens Salome auf, die Maria nach der Geburt untersucht und bezeugt, dass Maria immer noch Jungfrau ist. Diese Geschichte richtet sich beispielsweise gegen folgendes Gerücht, das im zweiten Jahrhundert auftauchte. Maria habe eine Affäre mit einem Soldaten namens Panthera gehabt und dieser sei der Vater Jesu.

Ein Bogenschütze als Vater?

Tatsächlich findet man in Deutschland, in Bad Kreuznach, den Grabstein eines Bogenschützen römischer Hilfstruppen, dessen Einheit einige Jahre nach der Zeitwende an den Rhein versetzt wurde. Sein Name ist Tiberius Julius Abdes Pantera und er stammte aus Sidon im heutigen Libanon, also nicht allzu weit von Nazareth entfernt. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Pantera der Vater Jesu war, geht dennoch gen Null, denn Jesu Vater war Josef; Panthera war zudem kein seltener Name.

Matthäus brauchte nun eine Idee, wie er Jesu Geburt in Bethlehem stattfinden, Jesus selbst aber später in Nazareth aufwachsen lassen kann. Denn der Messias sollte nach den Weissagungen des alttestamentlichen Propheten Micha in Bethlehem, der Stadt Davids, geboren werden. Und was für Elemente gehörten in die Kindheitsgeschichte eines Heilands? Matthäus war ein gebildeter Mann, der die antiken Mythen und die (Zeit-) Geschichte kannte. Und ein Ereignis des Jahres 66 n. Chr. hinterließ einen gewaltigen Eindruck im Osten des römischen Reiches.

Magier – oder Weise aus dem Morgenland?

Tiridates, der König von Armenien, reiste in diesem Jahr nach Rom, um dort das Diadem aus den Hände Kaiser Neros zu empfangen – ein Akt, der die Unterwerfung unter römische Oberhoheit demonstrierte. Tiridates und einige Mitglieder seines Gefolges wurden von ihren Zeitgenossen auch als Magier bezeichnet. Das heißt, sie waren Priester einer iranischen Religion, die sich auf den Religionsstifter Zarathustra beruft. Das Wort kann aber auch allgemeiner Sterndeuter und Astrologen bezeichnen. Es ist gut möglich, dass sich Matthäus dadurch zu folgender Episode inspirieren ließ:
„Als Jesus zur Zeit des Königs Herodes in Bethlehem geboren worden war, kamen Magier aus dem Osten nach Jerusalem. […] Und der Stern, den sie hatten aufgehen sehen, zog vor ihnen her, bis zu dem Ort wo das Kind war.“

In Luthers Übersetzung werden aus den Magiern die Weisen aus dem Morgenland. Sie huldigen in Bethlehem dem neugeborenen König der Juden und schenken ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe. Das sind in der Antike typische Geschenke für einen König. Im Jahre 205 v. Chr. erhielt ein König namens Antiochos Silber, Weihrauch und ein Öl geschenkt, das man aus dem Harz der Myrrhe gepresst hatte. Myrrhe war teuer und begehrt und wurde als Räuchermittel, als Medizin und als Mittel zum Würzen von Wein und Likör verwendet.

Die Magier verwandelten sich erst im Laufe der Zeit in die heiligen drei Könige. Es fing damit an, dass der Kirchenvater Tertullian (um 200) erklärte, die Magier wären Könige gewesen, um die Bedeutung der Huldigung zu steigern. Und der Kirchenvater Origenes hatte im dritten Jahrhundert aus den drei Gaben geschlossen, dass sie zu dritt gewesen sein müssten. Matthäus hingegen sagt nichts über ihre Anzahl. Die Magier werden im Allgemeinen als Vertreter der heidnischen Welt gedeutet, die die Bedeutung Jesu erkannten – anders als die Juden.

Der Weihnachtsstern

Aber ist der Weihnachtsstern nicht vielleicht die Beschreibung eines astronomischen Ereignisses, das sich zuzeiten von Jesu Geburt tatsächlich ereignet hatte? Wissenschaftler haben immer wieder neue Theorien vorgelegt, die die Erscheinung des Sterns erklären sollten, etwa durch den Halleyschen Komet oder eine Supernova. Der Astronomieprofessor Dieter B. Herrmann hat jedoch gezeigt, dass sämtliche Erklärungsversuche gescheitert sind. Fast sicher hat es keine Himmelserscheinung gegeben, die durch den Weihnachtsstern beschrieben wird. Die bekannteste Theorie, eine Konjunktion von Jupiter und Saturn, die sich im Jahre 7 v. Chr. ereignet hatte, ignoriert beispielsweise, dass Jupiter und Saturn in dieser Konjunktion immer noch als zwei Objekte zu erkennen sind. Matthäus hatte jedoch von einem einzelnen Stern gesprochen.

Im Altertum wurde aber die Geburt oder auch der Tod eines Königs oder Heilands oft von außergewöhnlichen Himmelserscheinungen angekündigt und begleitet. Der antike Historiker Justin berichtet, dass bei der Geburt des Königs Mithridates von Pontos – eines Reiches in Kleinasien – im Jahr 132 v. Chr., „ein Komet siebzig Tage lang so leuchtend am Himmel stand, dass dieser ganz und gar in Flammen zu stehen schien“. Auch am ersten Todestag Julius Caesars soll ein Komet sieben Tage lang am Himmel erstrahlt sein. „Man glaubte, es sei die Seele des in den Himmel aufgenommenen Caesar“, wie der antike Biograph Sueton notiert.

Kindermord?

In Matthäus’ Geschichte brechen die Magier nach der Huldigung auf, um König Herodes über den genauen Geburtsort Jesu zu informieren, wie es dieser verlangt hatte. Herodes herrschte als Stellvertreter Roms über Judäa. Doch ein Traum warnt sie, auf keinen Fall sollten sie zu Herodes zurückkehren. Denn Herodes fürchtet die Konkurrenz des neugeborenen Königs der Juden und als er merkt, dass die Magier ihn im Stich lassen, gibt er den Befehl, alle Jungen im Alter von bis zu zwei Jahren in Bethlehem und Umgebung zu töten. Doch Gott lässt Josef durch einen Engel warnen und der Familie gelingt die Flucht nach Ägypten.

Auch dies ist ein bekanntes Motiv. Als Inspiration diente Matthäus vermutlich die Geschichte von Moses: Der ägyptische Pharao gab den Befehl alle männlichen Neugeborenen der Hebräer zu töten, Moses aber wurde von seiner Mutter in einem Binsenkästchen im Nil ausgesetzt, und gerettet. Eine ähnliche Geschichte erzählte man sich von Romulus, dem Gründer Roms und Sohn des Gottes Mars. Er wurde aus dem Tiber gefischt und von einer Wölfin gesäugt.

Der Kindermord selbst ist nicht historisch, denn keine einzige andere Quelle berichtet über ihn. Die Geschichte passt aber hervorragend in das Bild, das man bereits in der Antike von Herodes zeichnete. Er galt als Schlächter, der nicht nur seine Frau und deren Mutter, sondern auch drei seiner Söhne hat hinrichten lassen. Dies geschah aus Angst um seine Herrschaft, Herodes fürchtete eine Verschwörung seiner Söhne. Ein Mordmotiv, das Matthäus für seine Erzählung übernimmt.

Ein Tyrann

Nach dem Tode des Herodes schickt Gott erneut einen Engel, der Josef, Maria und Jesus aus Ägypten zurückruft. Damit erfüllt sich die Weissagung des Propheten Hosea, Gott habe seinen Sohn „aus Ägypten“ gerufen. Doch noch immer braucht Matthäus einen Grund für die Familie, sich in Nazareth nieder zu lassen. Er findet ihn schließlich im Sohn des Herodes, Archelaos, der nun über Judäa herrscht, wo Bethlehem liegt. Archelaos führte in Judäa ein Schreckensregime, Kaiser Augustus enthob ihn deswegen seines Amtes.

Josef und seine Familie fürchten diesen Tyrannen. „Und weil er im Traum einen Befehl erhalten hatte, zog er in das Gebiet von Galiläa und ließ sich in einer Stadt namens Nazareth nieder.“ Galiläa unterstand einem anderen Sohn des Herodes, der eine menschenfreundlichere Herrschaft führte.

Herbergssuche und Ochs und Esel

Damit endet die Geburtsgeschichte des Matthäus, doch fehlt hier nicht noch etwas? Bisher war keine Rede von der überfüllten Herberge, die Josef und Maria zwang in einen Stall auszuweichen. Und wo sind Ochs und Esel?
Die Episode mit der Herbergssuche entstammt dem Evangelium des Lukas, der zur gleichen Zeit, aber unabhängig von Matthäus eine Geburtsgeschichte schrieb. Die hat inhaltlich fast nichts mit der des Matthäus gemeinsam. Lukas schrieb von einem Zensus, der verlangte, dass sich alle Bewohner des römischen Reichs in die Steuerlisten eintragen ließen. Und zwar jeder in seiner Geburtsstadt. So zogen Maria und Josef in Josefs Geburtsstadt Bethlehem; dort kam Jesus auf die Welt und wurde in eine Krippe gelegt. Engel und Hirten, die von einem nahen Feld herbei gelaufen waren, priesen das Kind als Messias; schließlich kehrte die Familie nach Nazareth zurück.

Auch diese Geschichte ist nicht historisch, denn es gab im römischen Kaiserreich nie einen reichsweiten Zensus. Und bei einem lokalen Zensus hätte sich Josef im Hauptort von Galiläa, Sepphoris, eintragen lassen müssen. Marias Anwesenheit wäre dabei nicht nötig gewesen. Die frühen Christen ergänzten Ochs und Esel. Denn sie fanden bei Jesaja den Vers, „Der Ochse kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn“.

Matthäus hatte es geschafft. Er hatte eine Geschichte voller Dramatik geschrieben und die Geschehnisse vor und nach Jesu Geburt zeigten Jedem, dass Jesus von Anfang an dazu bestimmt war, der Messias und der Erlöser der Menschen zu sein. Aber die Geschichte ist ein Produkt seiner Phantasie, aufgebaut auf legendenhaften Erzählungen, die unter den frühen Christen kursierten und klassischen Erzählmotiven.

Historische Tatsachen

Die Geburt Jesu ist jedoch ein historisches Ereignis. Die Tatsache, dass er gelebt hat bezeugt, neben den Evangelien, der römische Historiker Tacitus. Eine gewisse historische Glaubwürdigkeit kann auch der Zeitpunkt der Geburt beanspruchen, den Matthäus nennt, die letzten Lebensjahre des Herodes. Dies könnte auf eine echte Erinnerung zurückgehen, die der Evangelist transportiert hat, denn der Tod eines Herrschers diente seinen Untertanen schon immer als chronologischer Fixpunkt, an dem sie sich orientierten. Herodes starb im Jahr vier vor der Zeitwende, Jesus war vermutlich kurz zuvor geboren worden. Sein Geburtsort war Nazareth, seine leiblichen Eltern waren Maria und der Bauhandwerker Josef.

Das früheste Zeugnis, dass das Weihnachtsfest am 25. Dezember gefeiert wurde, ist ein Eintrag in einem römischen Kalender im Jahr 336. An diesem Datum feierte man im dritten und vierten Jahrhundert das heidnische Fest des Sol Invictus, des unbesiegbaren Sonnengottes. Eine bekannte Theorie besagt, dass die frühe Kirche dieses Fest mit Weihnachten verdrängen wollte.

Dieser Text erschien in sehr ähnlicher Form bereits im Dezember 2013 im Tagesspiegel.