Aller Anfang …

Aller Anfang …

15. Januar 2023 0 Von Katharina Maier

Den Anfang des Jahres nutzt man ja gerne für gute Vorsätze. Ich jedenfalls habe 2023 einiges vor, was das Schreiben und das Veröffentlichen angeht. Natürlich kann immer irgendetwas dazwischenkommen – so wie die letzten Jahre mehr als einmal – doch ich bin guten Mutes! Und ihr so? 🙂

Zur Feier des Jahresanfanges und in Erwartung schöner Projekte möchte ich euch heute die Anfänge von vier Geschichten vorstellen, die ich vorhabe, im Laufe des Jahres zu veröffentlichen. Habt ihr Lust?

Übers Salz – Mein Versuch einer Dystopie

Ich schreibe zwar Science-Fantasy, aber mit Weltuntergangsszenarien habe ich es sonst eigentlich nicht so. Doch das Thema einer Anthologie, zu der ich eingeladen wurde, schrie geradezu nach einer Dystopie. Also habe ich mich an dieses doch sehr düstere Untergenre der Science Fiction herangewagt. Herausgekommen ist eine Ode ans Geschichtenerzählen, die genauso sehr von einem Neuanfang handelt wie von einem Ende. – Was soll ich sagen? Ich kann düster, aber pessimistisch kann ich eher nicht.

Die Anthologie, für die die Geschichte „Übers Salz“ entstanden ist, wird es nun leider in der geplanten Form nicht geben. Man kennt das ja: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Aber dafür habe ich nun endlich bald genug Texte zusammen für eine Anthologie aus eigener Feder. Arbeitstitel ist „Persephone im Weltraum“, und „Übers Salz“ darf auch mit rein.

Übers Salz – Der Anfang

Heute holt sich Mel ihr restliches Buch. Das Salz der Steppe knirscht unter ihren Stiefeln und wirft das Sonnenlicht in ihre Augen, brennt auf ihren Lippen, der Zunge, im Rachen, auf der Haut und unter den Fingernägeln. Mels Sachen sind nicht für das Salz gemacht. Sie ist ein Kind der Flusstäler, wo die Luft den Geschmack von Feuchte trägt und der Reis auf den Feldern den Boden filtert.

Wenigstens ihre Stiefel sind gut. Sie hat fünf Geschichten dafür bezahlt und zehn für die Schutzbrille, deren Gläser von selbst abdunkeln und das Flirren über der Ebene abmildern. Mels Augen tränen trotzdem, und das Wasser sammelt sich am unteren Rand der Brille, wo sie an ihren Wangen klebt. 114 Weiler bis zu StadtAUB, schreibt das integrierte Navigationssystem über die Gläser der Brille. Mel hat keine Ahnung, was das heißt. Aber am Horizont bricht sich das Sonnenlicht wie auf einem Berg aus Glas. Dort, denkt sich Mel. Dort wartet mein Buch.

„Genug geschaut, Storyteller?“, fragt Luck und lässt den Motor seines Salzgleiters aufheulen.

Mel verdreht die Augen hinter ihrer Brille. Seit seiner Ernennung zum Karawan-Führer ist Luck unerträglich in seiner Selbstzufriedenheit. Aber er ist auch weit gekommen, seit er mit Mel zwischen den Reisfeldern Fang-das-Raumschiff gespielt hat. Niemand kennt das Salz so gut wie er, und selbst Mel könnte nicht genug Geschichten erzählen, um einen anderen Karawan für die Fahrt in die nächste Stadt zu bezahlen. So viel sind ihre Geschichten noch nicht wert. Doch Mel muss endlich wissen, wie es mit dem Jungen weitergeht.

„Lass das Mädchen doch schauen, Karawanter“, sagt Estrela, der bei den Lamas steht und ihnen aus hohlen Händen Wasser zu trinken gibt. „Sie begeht das Salz schließlich zum ersten Mal, oder nicht?“

Estrela dagegen sieht aus, als hätte das Salz selbst ihn geformt. Mel kann nicht so ganz festmachen, woran das liegt. An seinem ockerfarbenem Haar vielleicht oder der durchfurchten, ledernen Haut oder an seiner großen, eckigen Gestalt. Vielleicht kommt es aber auch daher, dass von ihm dieselbe Ruhe ausgeht wie von den Lamas.

Mel hat immer gedacht, alle Menschen, die ihr Leben damit verbringen, von Stadt zu Flusstal zu Fabrikhof zu Stadt zu ziehen, wären so forsch und harsch wie Luck. Sie hat auch gedacht, das Salz wäre harsch. Mel wendet sich wieder der spiegelflachen Steppe zu, die zwischen ihr und der Stadt liegt.

Tiefe Orangetöne malen verschwommene Muster in das brüchige Weiß, wo sich Erde zwischen das Salz mischt. Erst vor Kurzem hat es geregnet und das Wasser zieht schimmernde Bahnen über die Ebene. In unregelmäßigen Abständen sammelt es sich in seichten Mulden und färbt sich rosarot. Algen und Bakterien, sonst gedeiht in dieser Lake nichts.

Mel weiß, dass das Salz tödlich sein kann. Aber jetzt versteht sie, warum Luck den Reisfeldern den Rücken gekehrt hat. Die Stille über dem Salz ist unermesslich. Das Brummen der Lamas und das abgehackte Bellen der Salzkis verstärken sie nur noch. Es gibt schlimmere Orte, um auf den Sternenflug zu warten.

„Hier.“

Mel zuckt zusammen, hat Star nicht kommen hören. Star ist das dritte und letzte Mitglied von Lucks Karawan, die Lamas und Salzkis nicht mitgerechnet. Am Morgen, nach ihrem Aufbruch aus dem Hort, hat Star Mel eine Salbe aus Aloe und Lamamilch gegeben, um ihre Haut vor der Sonne und dem Salz zu schützen, und jetzt hält die_r Karawanter ihr eine Handvoll getrockneter Stachelbeeren unter die Nase.

„Gegen den Geschmack im Mund“, sagt Star.

Mel ist von dieser Freundlichkeit etwas überwältigt, steckt sich aber folgsam eine Stachelbeere zwischen die Zähne. Das Saure mischt sich mit dem Salz auf ihrer Zunge und sie schiebt eine weitere Beere nach. Star verzieht die Lippen zu einem Lächeln und Mel fragt sich, ob ihr Gegenüber sie kauen hören kann. Ein milchiger Film überzieht Stars Augen, kaum zu erkennen, wenn man nicht aufpasst. Aber die Blindheit greift auch in den Tälern um sich und Mel weiß, worauf sie achten muss. Wenn sie keine Geschichten erzählt, ist sie Caregiver.

Sie weiß auch, dass die Reisfelder versalzen, dass der Salzgehalt des Bodens schneller steigt, als die Genetiker die Widerstandsfähigkeit der Reissorten anpassen können, und dass das Wasser aus den Flüssen nicht mehr so süß schmeckt wie früher. Alle in den Tälern wissen das. Vielleicht ist es wirklich maßlos, über das Salz zu reisen, um ein Buch zu finden.

Maßlos ist kein Mel-Wort. Es ist ein Wort der Hortleiter. Gül hat es heute Morgen erst wieder zu Mel gesagt und zu Luck auch. Sie sagt es zu vielen jungen Menschen. Wahrscheinlich hat sie recht. Mel denkt an den Jungen aus dem Buch, der immer nur das macht, was er für richtig hält. Immer. Gül würde auch ihn maßlos nennen. Fruchtige Säure erfüllt Mels Mund, als sie den Rest der Stachelbeeren hineinstopft. Stars Lächeln wird zu einem Grinsen. Die_r Karawanter klopft Mel auf die Schultern.

„Geh nicht alleine los, ja? Halt dich an uns oder an die Salzkis. Das Salz ist heute feucht wie Schlick. Wenn du nicht aufpasst, verschlingt es dich, Süße.“

Als hätte sie die Worte verstanden, kommt mit einem „Jipp“ eine taubengraue Salzki-Hündin angesprungen. Star lächelt wieder und legt eine Hand auf den Kopf des Tieres.

„Nur weil es schön aussieht, heißt das nicht, dass es nicht gefährlich ist“, sagt Star zu Mel und lässt sich von der Hündin zu einem weißen Lama führen.

Estrela sitzt schon auf einem weiteren Reittier. Die Salzkis sind losgelaufen und umkreisen den Karawan. Nur Stars Hündin bleibt an der Seite des weißen Lamas. Mel holt einen letzten tiefen, salzigen Atemzug, dann stiefelt sie hinüber zu Luck und schwingt sich hinter ihm auf den kleinen, wendigen Salzgleiter. Lucks wasserblaue Augen funkeln sie über seine Schutzbrille hinweg an, dann drückt er ihr den Helm auf den Kopf, den sie vorhin abgenommen hat, als der Karawan für eine kurze Wasserpause angehalten hat. Er selbst trägt keinen. Seine rostroten Krausen sind wild und salzverkrustet.

„Bereit, Storyteller?“, fragt er. Auf Mels Antwort wartet er nicht.

Narrenbraut – Die Erste Tochter, Band 3

Der Band 3 meiner Future-Fantasy-Reihe „Die Erste Tochter“ hat lange auf sich warten lassen. Immer und immer wieder bin ich beim Überarbeiten gegen eine Wand gelaufen – das ist mir noch nie vorher passiert!

Aber jetzt ist der Roman endlich fertig und wartet nur noch auf den Satz. Ich bin so happy und finde, es hat sich gelohnt, sich Zeit zu lassen. Ich hoffe, den Lesedrachen wird es genauso gehen! Der Anfang der „Narrenbraut“ ist allerdings schon ziemlich alt. Heute stelle ich euch außerdem auch die Vorrede vor.

Narrenbraut – Vorrede

Dechal, der Erstgeborene Wys und Lchnadras, war der Herrlichste unter den Chyndrai, denen es gegeben war, niemals zu schwinden bis ans Ende der Zeit. Er war wahrhaft der Strahlendste von ihnen, auch wenn sein Herz schon zu jener Zeit aus dunklem Feuer gemacht war. Die Dunkelheit jedoch war damals noch unbedeutet und so schön und rein wie das Licht.

Da begab es sich, dass Dechal in die Welt zog, die den Nchrynnai gegeben war, den Späten und Liebsten Kindern des Höchsten. Und wohin auch immer er kam, liebten und fürchteten ihn alle, die ihn erblickten. Das Herz der Großen Mutter Lchnadra aber schmerzte ob der Abwesenheit ihres Ersten Sohnes.

Zwecklos war der Hohe Gatte bemüht, die Tränen der Mutter zu trocknen, die die Schöpfung zu ertränken drohten. Sie versiegten erst, als die Göttin Dechal aufs Neue erblickte, dessen Feuer die Kälte aus ihren Knochen brannte und ihr das Herz warmmachte in der blutvollen Brust. Und Dechal erblickte Lchnadra in all ihrer furchtbaren Schönheit, und er erkannte nicht länger die Mutter in ihr.

Er hob ihr die Hand entgegen, der Machtvolle, der Empörer, der Verführer, und bot ihr das Feuer, nach dem sie hungerte. Und die Göttin, der Kälte leid und des Lichts, ergriff sie mit ihren bleichen Fingern und erschloss dem Sohn das Herz, das allein des Vaters gewesen war. Dechal nahm sich, was ihm dargeboten wurde, und vereinte sich mit der Mutter in einer Eruption von Feuer und Schatten, die sich über die Schöpfung ergoss und seine Dunkelheit in alle Herzen pflanzte.

Die Geschichte Dechals und Lchnadras, oder: Der Große Frevel

Narrenbraut – Der Anfang

Der Blick der Frau ruhte auf dem halb entblößten Körper des schlafenden Mannes. Er lag auf dem Bauch, das Gesicht ihr abgewandt. Die dünnen, cremefarbenen Decken waren bis fast unter seine Hüfte gerutscht und malten so ein beinahe klischeehaftes Tableau.

Die Frau saß nackt auf dem Bett, den Zipfel einer der Decken über ihren Schoß gelegt. Ihr wildes Feuerhaar mischte sich mit dem cremigen Weiß, eine Farbkombination, die ihr Freude gemacht hätte, hätte sie ihren Blick lange genug von der Rückenlinie ihres Bettgefährten abgewandt. Vor den Fenstern überzog eine dicke Wolkenschicht den Himmel, die das Sonnenlicht silbern auf die Welt sickern ließ.

Es war ein gedämpfter Tag, und der Frau erschien das passend. Sie wusste, sie hätte abgestoßen sein sollen, angewidert sogar, und sie sollte sich beschmutzt fühlen. Für den Bruchteil eines Augenblicks letzte Nacht hatte sie das auch getan. Doch der junge Mann in ihrem Bett hatte etwas an sich, das ihr das Herz weitgemacht hatte, so wenig sie es rational nachvollziehen konnte. Und sie war eine rationale Frau, Pektay Fno, immer schon gewesen. Dass sie auch leidenschaftlich war, änderte nichts daran.

Deswegen saß sie jetzt nackt auf ihrem Bett und versuchte zu analysieren, was letzte Nacht passiert war. Sie war ausgezogen, einen Jüngling zu verführen, und jetzt war ihr etwas in die ausgebreiteten Hände gefallen, von dem sie nicht wusste, ob sie es haben wollte.

Ein Teil von ihr wünschte, sie hätte auf den jungen Sar gehört, der sie vielleicht warnen hatte wollen. Oder auch nicht. Ein wenig hatte sie das Gefühl, dass sie nicht so recht wusste, wem sie da gestern Abend begegnet war, doch gewiss nicht dem leichtherzigen, blitzeäugigen Glanzjungen, als den sie Ftonim Sar kennen und ein klein wenig lieben gelernt hatte. Genug jedenfalls, um ihn mehr als einmal in ihr Bett zu lassen.

Und was sollte sie nun mit dem jungen Nordler anfangen, den Ftonim so krallenbewehrt gehütet hatte wie ein Frn-Weibchen ein Nest voller Neugeborener? Wusste Ftonim es, dieses Geheimnis, das sie alle verbrennen konnte?

Pektay schürzte die Lippen. Das Herz hämmerte ihr zwischen den Rippen, und sie mochte das Gefühl nicht. Es bedeutete nie etwas Gutes. Ihr Blick glitt langsam von der Wurffalte der cremefarbenen Decke aus empor und wurde eingefangen von schläfrig geöffneten Augen, die dieselbe Farbe hatten wie das silbrige Halblicht vor ihrem Fenster. Pektay spürte, wie sie rot wurde. Sie hatte noch nie ein Problem mit Nacktheit gehabt, aber unter diesem Blick fühlte sie sich auf eine völlig ungekannte Art und Weise entblößt.

„Habe ich dir tatsächlich erzählt, was ich glaube, dass ich dir erzählt habe?“, fragte er. Seine Stimme war rau, aber ansonsten machte er nicht den Eindruck eines Mannes, der die Mengen an Alkohol konsumiert hatte, wie er es letzte Nacht getan hatte. Wie ungerecht.

„Mhm“, antwortete sie unverbindlich.

Er richtete sich ein wenig auf und stützte den Kopf in die rechte Hand. Die Decke rutschte noch ein Stückchen weiter. Pektay hatte ein wenig Schwierigkeiten, den Augenkontakt aufrechtzuerhalten, von dem sie wusste, dass sie ihn nicht brechen durfte.

„Warum bist du dann noch hier?“, fragte er ruhig.

„Das hier ist mein Haus“, wandte sie sachlich ein. Ihre Wohnung, genauer gesagt, die über ihrer Buchhandlung im Herzen der singisischen Hauptstadt lag. Ihre Stadt, ihre Wohnung, ihr Bett. Er war ein Fremder hier – in so vieler Hinsicht.

Der junge Nordler zuckte mit den Schultern, viel zu gelassen. „Gut, also: Warum bin ich noch hier?“

„Ich weiß es nicht.“

„Hm“, machte er.

„Hm“, machte sie.

Eine Weile sahen sich die beiden einfach nur an.

„Du hättest längst die Wystreiter rufen können“, meinte er schließlich nüchtern. Pektay schnaubte.

„Und zusehen, wie sie einen weiteren Neoly den Flammen und der Menge zum Fraß vorwerfen? Durch meine Schuld? Nur über meine Leiche!“

Ein fast noch geheimes Projekt

Hoffentlich noch dieses Jahr erscheint eine weitere Anthologie-Geschichte von mir, die diesmal gar nicht mit der Zukunft oder dem Weltraum zu tun hat! Aber ich wäre nicht ich, wenn sie nicht wen wenig fantastisch wäre. Auch wenn man das am Anfang nicht wirklich merkt …

Ob und wie die Geschichte tatsächlich erscheint, liegt leider nicht allein in meinen Händen. Es hängt von verschiedenen Faktoren ab, auf die ich keinen Einfluss habe. Aber etwas machen werde ich mit der Geschichte auf alle Fälle!

Arbeitstitel „Reisegruppe“ – Der Anfang

Die Sonne hatte sich schon über den Horizont geschoben, als Miss Lavinia die überhängende Plane zur Seite schlug und aus dem Wagen kletterte. Das buttergelbe Licht verfing sich in den Blättern der Bäume, deren Ränder begannen, an Grün zu verlieren. So viel Zeit hatten sie nicht mehr.

Lavinia zog sich ihr breites Tuch aus dunkelblauer Wolle enger um die Schultern, in das sie sich die Nacht über eingewickelt hatte. Sie hatte heute länger geschlafen als sonst. Vielleicht gewöhnte sie sich allmählich an den unbequemen Planwagen, selbst wenn ihre Knochen nicht mehr so jung waren wie einst.

Sie setzte die solide Sohle ihres Stiefels auf das Trittbrett am hinteren Ende des Wagens und landete dann mit Schwung auf dem felsigen Untergrund, der nur mit einer dünnen Schicht Erdboden bedeckt war. Es staubte. Der Sommer war zu trocken gewesen.

Das dumpfe Geräusch, mit dem sie auf dem Boden aufgekommen war, erregte die Aufmerksamkeit der wenigen, die schon munter waren. Der Rest der Gruppe schlummerte noch in den jeweiligen Planwagen, ließ wertvolles Tageslicht verstreichen. Lavinia presste kurz die Lippen aufeinander. Mr. Pepper ließ den feinen Herrschaften zu viel durchgehen; sie bezahlten den Scout, um ans Ziel zu kommen, nicht für eine Vergnügungsfahrt.

Allerdings war Mr. Pepper selbst noch nirgendwo zu sehen, hatte sich entweder nach seiner späten Nachtwache noch einmal aufs Ohr gelegt oder war in den frühen Morgenstunden aufgebrochen, um Fleisch zu machen. Miss Lavinia hoffte stark auf das Letztere; andernfalls würde sie bald die Geduld mit dem Scout verlieren, wenn nicht heute, dann mit Sicherheit morgen oder am Tag darauf.

Dass sie auch niemanden von den Fuhrleuten ausmachen konnte, sprach jedoch für die Jagd und gegen eine verlängerte Morgenruhe. Gut. Energischen Schrittes hielt Lavinia auf den grasigen Uferstreifen und das seichte, aber klare Flüsschen zu, das zusammen mit dem Bogen der Planwagen einen unregelmäßigen Halbmond bildete.

Ihr Weg führte sie am Lagerfeuer vorbei, wo ihre Schwester einen großen Topf Haferbrei mit Wasser und etwas Butter anrührte. Normalerweise hätte Lavinia selbst diese Aufgabe übernommen, aber heute war Emmy ungewöhnlicherweise früher wach geworden.

Neben Emmy saß der junge deutsche Journalist, der sich ihnen in der letzten Siedlung angeschlossen hatte, und befreite einen Korb voll Blaubeeren von Resten grüner Stängel. Lavinia traute ihm nicht; sein Erscheinen war zu plötzlich und zu unerklärt, sein Grund, sich ihrer Gruppe zuzugesellen, viel zu maßgeschneidert. Emmy schien die Bedenken ihrer jüngeren und klügeren Schwester allerdings nicht zu teilen. Leise redete sie auf den Journalisten ein, während sie in ihrem Haferbrei rührte; entweder kritisierte sie sanft seine Beerenreinigungskünste oder sie dichtete Verse auf das Blau der farbintensiven Früchte. Bei Emmy war beides etwa gleich wahrscheinlich.

Ein wenig abseits der zwei, aber nicht weit genug, um abweisend zu wirken, hockte Mr. Katsuo mit dem Gewicht auf den nackten Fußsohlen verteilt. Schweigend trank er seinen Tee; er brühte ihn sich jeden Morgen in einer speziellen Kanne mit Seitengriff, die er Kyūsu nannte. Bisher hatte nur Emmy von dem angebotenen Tee gekostet – und nun, wie es schien, der junge Deutsche, neben dem eine von Mr. Katsuos irdenen Teetassen stand. Lavinia für ihren Teil hatte Mr. Katsuo nicht um seine kostbaren Blätter bringen wollen, aber nun überlegte sie, ob ihre Rücksichtnahme dem Waldläufer nicht eher wie eine Ablehnung erschienen war.Beide Männer grüßten wohlerzogen, als Miss Lavinia am Feuer vorbeimarschierte. Emmy lächelte nur in den Haferbrei. Lavinia erwiderte den Gruß der Herren, ohne ihren Weg zum Fluss zu unterbrechen.

Etwas seitwärts vom Lager wuchs auf einem kleinen Überhang eine Trauerweide, deren Äste trotz des geringen Wasserstands bis zum Fluss hinabreichten. Sie boten einen gewissen Sichtschutz, den Lavinia nutzte, um ihre Kleidung zu lockern und sich mit dem kühlen Flusswasser zu waschen. Nicht dass der Vorhang aus sommergrünen Blättern unbedingt vonnöten gewesen wäre; Lavinia glaubte kaum, dass Mr. Katsuo oder der junge Deutsche sich einen Spaß daraus machen würden, eine alte Jungfer bei ihrer Morgentoilette zu begaffen. Selbst dem Rest der Herren, die noch in ihren Planwagen schnarchten, mochte Lavinia keine unanständigen Anwandlungen unterstellen, doch sie wusste aus Erfahrung, dass der Spottlust der Menschen keine Grenzen gesetzt waren. Man konnte von Mr. Pepper halten, was man wollte; der alte Scout verstand es immerhin, Abend für Abend die besten Lagerplätze für ihren kleinen Treck aufzutun.

Sauber und erfrischt begab sich Miss Lavinia zurück zum Kochfeuer, wo sich inzwischen auch das Mädchen Mary eingefunden und Emmy fünf Holznäpfe mit Haferbrei gefüllt hatte. Der restliche Porridge zog in dem in Tüchern verpackten Topf neben dem Feuer vor sich hin, während der junge Deutsche mit geübten Handgriffen Kaffee brühte.

Sternenglut 3 – Ein Raum voller Welten

Schon zwei Bände existieren von der Space-Opera-Anthologie „Sternenglut„, die ich zusammen mit Aybiline I. Dahlson und Szosha Kramer als Experiment begonnen habe. Und nun arbeiten und schreiben wir schon fließig an Band 3! Er wird im Sommer 2023 erscheinen und ich habe schon mit meiner Geschichte begonnen! Ich präsentiere euch ganz stolz den noch sehr frischen – und wahrscheinlich noch nicht ganz fertigen – Anfang!

Arbeitstitel „Der Schwiegersohn“ – Der Anfang

Rheia starrt ihren neuen Schwiegersohn an und kann sich keinen Grund denken, warum Dio ihn geheiratet hat. Nun, außer dem offensichtlichen natürlich. A-Yu ist auf jene makellose Art und Weise schön, wie es den Bewohnern des Mondes Guangyue im Allgemeinen nachsagt wird, nur noch mehr. Seine beiden Brüder, die im Schatten der Veranda links und rechts neben ihm sitzen und mit gelassener Eleganz Rheias lauwarmen Tee trinken, wirken erdhaft und greifbar verglichen mit ihm; die Haut ein paar Töne dunkler, die Gesichtszüge ein klein bisschen weniger ebenmäßig, der Ausdruck in ihren Augen nicht ganz so gütig und erhaben. Es ist, als hätte jemand in einem Anflug von Langeweile das Idealbild eines Guang in weiße Jade gehauen und ihm aus Versehen Leben eingehaucht. Aber ein Kunstwerk bewundert man, denkt sich Rheia; man holt es sich nicht ins Bett, geschweige denn dass man es heiratet.

Ein Windstoß fegt durch den Talkessel und verfängt sich in A-Yus nachtschwarzem Haar, in den ausladenden Ärmeln seines schieren Übergewands. Rheia fragte sich, ob der raue Wind von Aïdes, voller winziger Sand- und Steinpartikel, das seidige Gesicht ihres Schwiegersohns rotreiben wird oder ob A-Yu immun ist gegen solch basale Körperlichkeiten wie wundgescheuerte Haut. Auf den übrigen Monden der Titanide, Aïdes eingeschlossen, macht das Gerücht die Runde, dass die Guang bei den Attributen ihrer Abkömmlinge mit Genmanipulation nachhelfen, und wenn Rheia sich ihren Schwiegersohn so betrachtet – und seine nur minimal unperfekteren Brüder noch dazu – will sie es fast glauben. In einer fast synchronen Bewegung stellen die drei ihre Teetassen ab, und keine davon macht einen Laut beim Aufsetzen auf die steinerne Tischplatte.

Rheia räuspert sich, um die Stille zu durchbrechen, die über den Tisch hängt. Sie fängt Dios Blick auf, der mit sichtlichem Unbehagen zwischen den beiden Gruppen an der Stirnseite sitzt – sein Mann und seine Schwäger auf der einen, dem Haus zugewandten Seite [das Haus hat grüne Wände] und Rheia mit ihren beiden Töchtern und ihrer Mutter auf der anderen. In ihren Rücken erstreckt sich das steinige Land, das schon seit dem Anbeginn der Trabanten-Besiedlung ihrem Clan gehört. Dio ist in dem weiten Talkessel aufgewachsen, kennt jeden der zahlreichen kleinen Flussarme, die den Reichtum des Mondes aus der Erde spülten, in- und auswendig. Bis vor sechs Standardmonaten hat er Aïdes noch nie verlassen. Und selbst dann war es nicht aus eigenem Willen geschehen.

Ein weiteres Räuspern. „Ich kann euch gar nicht genug danken, dass ihr mir meinen Sohn zurückgebracht hat“, sagt Rheia und kommt sich unbeholfen vor.

A-Yu – so könne sie ihn nennen, hat er ihr mit dem sanften Lächeln einer minderen Gottheit gesagt – hebt den Blick seiner schimmernden, dunklen Augen und nimmt Dios Hand. Er muss sich dabei leicht vorlehnen, um über die auf dem Tisch verschränkten Hände seines älteren Bruders zu greifen. Und über dessen Teetasse. Bei jedem anderen hätte die Geste ungelenk ausgesehen, bei A-Yu wirkt sie grazil. Rheia stellen sich die Nackenhaare auf.

„Zwischen uns ist kein Dank vonnöten, xiao-popo“, sagt A-Yu zu ihr, doch er sieht dabei Dio an mit einem Blick so weich, dass man darin versinken könnte.

Butterweich, so ist ihr neuer Schwiegersohn. Undenkbar, dass er Dio den Fängen dieser Menschenjäger irgendwie anders entrungen hat als mit Geld. Davon haben die Guang ja auch genug. Aber Rheia ist eine Tochter von Aïdes, aus dessen Eingeweiden der Wohlstand des ganzen Titanidenbundes geschürft wird, und sie kann Guang Yu alles mit Zins und Zinseszins zurückzahlen. Könnte. Wenn es ihm darum ginge. Sie sieht Dio an und ihr Herz brennt. Ihr Sohn strahlt seinen Ehemann an, als sei er auf eine neue Goldader gestoßen. Und dann richtet er dieses Strahlen auf sie, Rheia, auf seine Schwestern und seine Großmutter, auf den weiten Talkessel in ihrem Rücken.

„Ich bin zu Haus, Mama“, sagt er, „ich bin zu Haus.“

Rheias Brust fühlt sich an wie ein Nest voller Nesseln. Nach all der Zeit der Angst und Ungewissheit ist ihr Sohn wieder zurück im Kessel, wo er hingehört. Dio ist dreiundzwanzig, kein Kind mehr, das weiß sie. Aber als er den Kessel vor sechs Monaten verlassen hat, war er dennoch kaum mehr als ein Junge. Jetzt ist er ein verheirateter Mann. Und der Untergrund soll Rheia holen, wenn sie nicht haarklein herausfinden wird, wie es dazu gekommen ist.