Fliegen

Fliegen

14. April 2019 0 Von Valentina Baumgartner

Eine kurze Geschichte über einen Vogel, der wohl nicht mehr fliegen wird.

Im Supermarkt

Frau Emmerich stand an der Fleischtheke und beobachtete, wie die Verkäuferin etwas in eine zu kleine Tüte packte, das aussah wie eine riesige Ente.

Ich fragte mich, ob sie schon immer so schrecklich ausgesehen hatte – Frau Emmerich. Ihre Gesichtshaut warf Falten, die sie in ihrem Alter noch nicht haben sollte, ihre Augen waren zugeschwollen, ihr Kinn hatte sie sich irgendwo aufgeschlagen. War ihr Zustand in letzter Zeit schlimmer geworden? Steckte sie es nicht mehr so gut weg? Oder war es mir einfach früher nie so aufgefallen wie in diesem Moment im Neonlicht des Supermarkts?

„Wie bereitet man den Vogel hier eigentlich zu?“, fragte sie lautstark die Verkäuferin. Das Mädchen war vielleicht siebzehn, erklärte der fünfzigjährigen Frau aber mit höflichen Lächeln fachmännisch den Backvorgang einer Ente.

„Hallo Frau Emmerich!“, grüßte ich im Vorbeigehen.

Frau Emmerich legte ihren Kopf in den Nacken, um zu sehen, wer sie da gegrüßt hatte. „Ach, Hallo Schätzchen!“, rief sie, lauter als nötig gewesen wäre, „Wie geht’s dem Vater?“ „Besser.“ „Und deiner Mutter?“ „So wie immer, nichts Besonderes.“ „Das freut mich zu hören!“

Frau Emmerich wandte sich wieder um zur Verkäuferin und ich bahnte mir weiter den Weg durch die Regale.

 

Ich hatte gerade gezahlt, da hörte ich sie hinter mir rufen: „Schön dich mal wieder zu sehen, Schätzchen! Noch einen schönen Tag!“

Ich wandte mich um. Frau Emmerich stand vor dem Spirituosen Regal und hatte die Hand mit ihrem Vogel von der Fleischtheke zum Gruß gehoben.

„Ihnen auch, Frau Emmerich!“

Ich winkte ihr und sie winkte mir mit ihrer Ente zurück. Die Tüte erfasste das Schnapsregal und zwei Flaschen fielen klirrend zu Boden.

Die Frau hinter mir an der Kasse schnalzte missbilligend mit der Zunge.

„Scheiße, tut mir leid!“, hörte ich Frau Emmerich noch rufen.

Im Treppenhaus

Zwei Stunden später traf ich sie auf dem Weg nach draußen in unserem Treppenhaus wieder. Sie saß auf den Stufen und rauchte. Dem Geruch nach zu urteilen stärkeres Zeug als nur eine gewöhnliche Zigarette. Sie tat das manchmal, Zeit im Treppenhaus verbringen. Wann immer ihr ihre Wohnung zu klein wurde. Sie konnte stundenlang dort sitzen und sich nicht mehr bewegen, als alle zwei Minuten mit dem Arm zu fuchteln, um den Bewegungsmelder für das Licht wieder losgehen zu lassen.

„Hallo Schätzchen.“

„Hallo Frau Emmerich!“

Neben ihr auf der Treppe lag noch der Vogel aus dem Supermarkt. Ich fragte mich, ob der seit seinem Kauf jemals wieder einen gekühlten Ort gesehen hatte.

„Willst einen Zug?“

Ich ließ mich neben Frau Emmerich nieder und nahm den Joint entgegen.

„Hab das Ding besorgt, weil mich morgen Tom besuchen kommt. Ich will ihm was Schönes kochen“, Frau Emmerich deutete auf ihre Ente.

Ich nickte. Ihr Sohn Tom war bestimmt nicht der schrecklichste Mensch auf Erden. Ich mochte ihn nicht.

„Ich hab mir gedacht, morgen ist ja Weihnachten. Da freut er sich bestimmt über eine gute Ente. Seine Großmutter, Daniels Mutter, nicht meine, hat das immer zu Weihnachten gekocht.“

Es war Ende Januar.

„Ja, da wird er sich sehr freuen.“

Ich zog nochmal am Joint, dann gab ich ihn ihr wieder zurück. „Ich muss los. Schönen Abend Ihnen noch.“

Der gestürzte Vogel

„Ja, du hast Recht, Schätzchen.“ Sie stand ebenfalls auf, schwankte kurz, fing sich dann aber wieder. „Ich sollte den Vogel hier wohl mal in den Kühlschrank legen.“

Sie versuchte die Tüte zu greifen. Dabei kippte sie wackelig nach vorne. Der Vogel glitt zwischen Geländer und den Treppenstufen durch und segelte die gesamten fünf Stockwerke unseres Mietshauses hinunter.

Frau Emmerich und ich lehnten uns beide über das Treppengeländer und starrten wortlos hinterher.

„Scheiße…“ Fahrig fuhr sie sich durch die Haare. „Na gut, dann bestellen wir morgen wohl Pizza.“

„Schönen Abend noch…“, grüßte ich sie zögerlich.

„Dir auch, dir auch!“

Langsam erklomm sie die letzten Stufen zu unserem Stockwerk, oben am Absatz angekommen wandte sie sich nochmal um.

„Schätzchen, kannst du mich vielleicht morgen früh wenn du zur Arbeit gehst wecken? Klingeln, klopfen oder so? Ich muss den Vogel in den Ofen schieben. Der braucht fünf Stunden!“

Ich sah Frau Emmerich verwirrt an und blickte unsicher nochmal über das Geländer. „Ach ja, stimmt… Scheiße, vergiss es!“