New Beginnings – Timo und Lennart

New Beginnings – Timo und Lennart

25. Februar 2021 0 Von Julia Dietz

Alles auf Anfang

Alles auf Anfang, also. Oder auch alles auf null? Timo und Lennart sind die Protagonisten aus meinen ersten beiden Romanen. Ich habe lange überlegt, ob ich ein Sequel zu meiner Dilogie „Glitzernde Nächte/Die Nacht ist für uns“ schreiben soll. Ideen sind da und nach meiner Umfrage auf Instagram auch die Nachfrage. Es wird definitiv keinen dritten Band geben, aber vielleicht veröffentliche ich von Zeit zu Zeit ein paar neue Kapitel. Fan-Service sozusagen 😉

Was ist vor fünf Jahren passiert, als „Die Nacht ist für uns“ endete?

Lennart hat sich von Timo getrennt, weil Timo sowohl in ihn als auch in Lennarts besten Freund Christoph verliebt war. Es war eine gute Entscheidung, die richtige, denn Lennart musste erst einmal zu sich selbst finden. Außerdem stand er kurz vor dem ersten Treffen mit seinem leiblichen Vater. Und Timo? Er war auch noch auf der Suche nach seiner Identität und seinem Platz in dieser Welt. Ob er ihn gefunden hat? Lest selbst.

Alles auf Anfang – 5 Jahre später

Timo

Wir verließen den Club. Ich hatte keine Ahnung, wo es hingehen sollte, doch ich spürte einen Rausch in mir, als Lennart mich nach draußen zog. Einen Rausch, wie ich ihn seit langem nicht mehr mit einem anderen Menschen gefühlt hatte. Der Lärm verstummte langsam, je weiter wir uns vom Gebäude entfernten. Nur der dumpfe Bass hing uns noch länger nach. Es war warm in dieser Nacht in Berlin. Langsam und gemächlich schlenderten wir an den aufgewärmten Häusern vorbei. Ich zupfte die aufgesetzten Finger herunter. Lennart hielt mir seine Hand hin und fragte stumm nach einem davon. Gespielt widerwillig reichte ich ihm einen und er inspizierte ihn genau, setzte ihn sich auf seinen Zeigefinger.

„Die sind gut geworden“, sagte er und stupste mir damit gegen meinen Arm. Wir sagten lange nichts, gingen durch die Straßen, schauten, warteten ab, warfen uns verstohlene Blicke zu. Wir hatten kein Ziel, zumindest kein vereinbartes. Vor einem Späti blieben wir stehen. Mit dem Kopf nickte Lennart zur Tür und wir traten ein. Aus dem Kühlschrank griff er zwei Flaschen Bier und bezahlte beim Kassierer. 

„Ich lade dich ein“, sagte Lennart.

Mit seinem Feuerzeug öffnete er beide Flaschen. Lächelnd stießen wir an, so dass es ein dumpfes Geräusch gab.

Vor dem Laden nahm ich einen tiefen Schluck. 

„Hälst du kurz mein Bier?“ fragte Lennart, während er eine Zigarettenschachtel aus der Hosentasche seiner Knickerbocker zog. Unsere Finger berührten sich flüchtig, sein Blick traf meinen, nur eine Sekunde oder zwei, doch es reichte, dass mir ein Blitz im Herzen einschlug. Die Flamme des Feuerzeugs mit der Hand schützend, zündete er die Zigarette an.

„Willst du auch?“, fragte er. Ich nickte und er zog mir eine aus der Schachtel, gab mir Feuer. Wir lächelten wieder und es war merkwürdig vertraut. Verlegen nahm ich noch einen Schluck Bier. War ja nicht so, als hätten wir uns fünf Jahre gar nicht gesehen. Wir hatten mal mehr, mal weniger Kontakt. Als ich noch mit Christoph zusammen gewesen war, hatten wir uns öfters gesehen. Das war seltsam gewesen, aber es hatte mich abschließen lassen. Wir konnten miteinander reden. Dinge klären. Uns aussprechen oder wie man es nannte. Ich mochte das Wort nicht. Aussprechen. Aber genau das hatten wir getan. Unsere Fronten abgesteckt. 

Wir standen am Spreeufer unweit vom Club entfernt, so nah, dass wir den Bass hören können. Mein Bier war leer und Lennart nahm gerade den letzten Schluck von seinem. Er holte mit seinem linken Arm aus und schleuderte die Flasche von sich. Mit einem Platschen landete sie ein paar Meter von uns entfernt im Wasser. Vor Lachen prustete ich los.

„Du bist der schlechteste Werfer, den ich kenne.“ 

„Versuch doch weiter zu werfen“, sagte Lennart und drehte einen Joint.

Ich holte aus und pfefferte die Flasche in hohem Bogen über die Spree. Dreimal so weit wie Lennarts Treffer kam die Flasche auf der Oberfläche auf und versank in der Tiefe. Triumphierend hielt ich die Arme nach oben.

„Ist auch nicht schwer, als verfluchtes Wurf-Talent.“ Das Feuerzeug in seiner Hand klickte. Lennart zog am Joint und reichte ihn mir. Eigentlich wollte ich nicht bekifft sein und nahm trotzdem einen Zug. Und noch einen. Und noch einen. Das Dope benebelte mich. Lennart rauchte den Rest, schnippte den Stummel zu den Flaschen in die Spree.

„Wie war´s in Asien?“, fragte er nach einer Weile.

„Schön“, hauchte ich. Wie soll man ein ganzes Jahr auf diese Frage herunter brechen? Ich wusste es nicht. Mir ging so vieles durch den Kopf. Alles, nur nicht Asien.

„Ich hab gehört, du warst zuletzt auf Bali?“

Ich bejahte. „Fast einen Monat war ich dort.“

„Hat dir wohl gut gefallen.“

Ich nickte.

„Wo warst du noch?“

„Thailand, Vietnam, Laos, Myanmar, China.“

„Warst du auch in Indien?“

Wieder nickte ich. „In Goa.“

„Da würde ich auch gerne mal hin.“ Lennart legte den Kopf in den Nacken und lächelte.

„Und du? Was hast du das letzte Jahr so gemacht?“

Sein Blick huschte zu mir und wieder zurück zum Wasser.

„Gearbeitet. Gefeiert. Das Übliche. Nichts Besonderes.“

„Bist du noch mit Carl zusammen?“ Die Frage brannte mir schon die ganze Zeit auf der Zunge. 

Lennart warf mir wieder einen Blick zu. Diesmal länger. Er lächelte matt und nickte.

„Wir sind immer noch zusammen.“

„Dann dauert eure Beziehung schon länger als unsere damals.“

Ich konnte mir ein Schnauben nicht verkneifen. Lennart war ein paar Monate bevor ich ins Ausland gegangen bin mit Carl zusammen gekommen. Am Anfang hatte ich noch gedacht, dass es nichts Ernstes gewesen wäre, weil Lennart oft Affären über mehrere Wochen pflegte. Aber als die zwei immer noch zusammen gewesen waren, nachdem ich ihn länger nicht gesehen hatte, hatte ich gespürt ich, dass es für Lennart ernster war, als er mir gegenüber hatte zugeben wollen.

Carl war bereits 40 und einer von diesen erfolgreichen Werbefuzzies mit eigener Agentur. Er kokste am Wochenende, ging täglich für mehrere Stunden ins Fitnessstudio und trieb sich wie Lennart in den Darkrooms der Stadt herum. Und das Schlimmste daran: Carl war auch noch nett. Er überhäufte Lennart mit Geschenken, machte Reisen mit ihm, nahm ihn mit nach Ibiza zur White Party, nach Thailand zur Full Moon Party und nach Tulum, um sich den Sonnenuntergang anzusehen.

Am Anfang hatte ich Carl gehasst, weil er Lennart alles gab, was er haben wollte. Weil sie die gleichen Ziele hatten, er auf seine Bedürfnisse einging und nicht so ein verlogener Penner war, wie ich es Lennart gegenüber gewesen war. Doch es fiel mir immer schwerer ihn zu hassen, wenn er den Menschen, den ich einmal sehr geliebt hatte, so glücklich machte.

Und noch schwerer fiel es mir zu begreifen, dass ich nie eine Chance gegen ihn haben würde. Ich wusste nicht warum, aber insgeheim hatte ich immer gehofft, dass Lennart und ich irgendwann einmal wieder zusammenkommen würden. Aber seit er Carl kannte, glaubte ich nicht mehr daran. 

„Wie lange wirst du dieses Mal bleiben?“, fragte er. 

Als ich die Reise vor einem Jahr angetreten hatte, hatte ich gedacht, ich würde das ganze Jahr über wegbleiben. Stattdessen hatte ich einen Zwischenstopp in Berlin gemacht. Nur kurz. Um allen Hallo zu sagen und war dann doch wieder drauf und dran zu flüchten, nachdem ich Lennart und Christoph gesehen hatte.

„Eigentlich will ich für länger bleiben.“

„Was hast du denn jetzt vor, hier in Berlin?“

„Studieren, wenn alles klappt.“

Lennart nickte. Sein Mobiltelefon piepste. Er las die Nachricht, die er bekommen hatte und sah über die Spree.

„Ich gehe wieder rein. Kommst du mit?“, fragte er.

Langsam schlenderten wir zurück, gingen an der Schlange vorbei und zeigten dem Türsteher unsere Stempel. Im Club kam mir plötzlich alles zu eng vor und ich vermisste die ruhigen Strände, an denen ich mich die letzten Wochen aufgehalten hatte. Eigentlich wollte ich nicht hier sein und irgendwie auch doch. Lennart verabschiedete sich lächelnd von mir mit den Worten: „Wir sehen uns“, zwinkerte mir zu und bahnte sich einen Weg durch die Menge.

Er ging in den oberen Stock. Ich wartete einen Moment und folgte ihm dann mit Sicherheitsabstand. Es dauerte nicht lange und ich entdeckte ihn bei seinem Lover Carl. Ich versteckte mich hinter einer Gruppe und beobachtete die beiden. Sie küssten sich und Carl hielt Lennart wie etwas sehr Kostbares in seinen Armen. Unter mir rutschte der Boden weg und ich spürte, wie ich fiel und fiel und fiel. Ich musste hier weg. Ich drängelte mich zurück durch die Menge, suchte meinen besten Freund, bis ich Sebastian mit einer Frau als barocke Dame verkleidet auf der Tanzfläche fand. 

„Kann ich heute Nacht bei dir schlafen?“, fragte ich.

„Was ist denn mit Eric und Philipp?“

„Ich möchte lieber bei dir schlafen. Ist das okay? Du kannst ruhig noch bleiben, aber ich muss hier weg.“

Sebastian lächelte. „Bis später.“

Ich rannte aus dem Club und es war mir egal, ob ich jemanden dabei anrempelte oder mich von niemandem verabschiedete. Ich wollte nur noch hier weg.

In Sebastians Wohnung war es still. Meine Ohren dröhnten. Ich zog mein Kostüm aus, wusch die Schminke von meinem Gesicht, schaute in den Spiegel. Das schwarz um meine Augen war noch nicht ganz verschwunden. Ich sah aus wie ein Totenkopf. Lennart mit Carl zu sehen, tat so viel mehr weh, als ich gedacht hatte. Aber was hatte ich denn erwartet? Eigentlich nichts. Gar nichts. Die Zeit in Berlin hatte sich weitergedreht. Ohne mich. 

Ich wusch mir auch die schwarze Farbe weg und putzte die Zähne. Weil Sebastian nur eine Decke hatte, nahm ich mir eine Wolldecke und legte mich damit in sein breites Bett. 

Fünf Jahre waren Lennart und ich nun kein Paar mehr. Und doch gab es nach unserer Trennung einige Momente, die sich in meine Erinnerung gebrannt hatten. An einem Abend, kurz bevor Christoph und ich uns getrennt hatten, war ich in einem Club unterwegs. Christoph und ich hatten uns gestritten. Wegen unwichtigen Dingen. Im Laufe unserer Beziehung stritten wir oft. Ich wollte nicht daran denken, denn es tat weh und ich hatte das Gefühl, dass es bald vorbei sein würde mit uns. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wer die Worte zuerst aussprach. 

Im Club war es laut und voll. Ich bestellte mir gleich nach meiner Ankunft einen Wodka-Energy und trank ihn auf Ex. Dann stürzte ich auf die Tanzfläche und tanzte um mein Leben, so wie ich es immer getan hatte, schon in Kaltenbüttel, wenn sich die Welt wieder aus den Fugen hob. Und für einen Moment fühlte ich mich frei und losgelöst, als der Bass auf mich eindonnerte. Was suchte ich eigentlich, wenn ich doch nie fand, was ich wollte? 

In der Menge bemerkte ich ein paar Meter von mir entfernt eine vertraute Gestalt tanzen. Es war Lennart und er bewegte sich genauso wild zur Musik wie ich. Er war allein. Zumindest sah es so aus, als wäre er alleine. Lennart trug eine Sonnenbrille. Er hatte mich nicht bemerkt, also drängelte ich mich zu ihm durch, obwohl ich Zweifel hatte, dass er mich überhaupt sehen wollte. Und dann stand ich neben ihm und tippte ihn an. 

„Timo!“ Er riss die Arme in die Luft. Da war keine Ablehnung, kein ‚Ich will dich nicht sehen‘. Wir hatten ein paar Mal gesprochen in den letzten Monaten. Er war nicht sauer auf mich, dass ich mit Christoph zusammen war, auch wenn er nicht übermäßig glücklich darüber war. Lennart war zu sehr mit sich beschäftigt gewesen, damit seinen Vater kennenzulernen, den er erst vor kurzem das erste Mal getroffen hatte. Er hatte andere Sorgen, als sich über mich zu ärgern. Vielleicht freute er sich deshalb mich zu sehen. Er nahm meine Hände in seine. Warm, vertraut, verschwitzt. Er war angetrunken, ich war angetrunken, wir grinsten wie bescheuert. 

„Bist du alleine hier?“, brüllte er mir ins Ohr und ich nickte.

„Und du?“

„Ich auch! Was ist mit Chris?“

„Ich weiß nicht. Was soll denn mit ihm sein?“

Lennart schaute mich über den Rand seiner Sonnenbrille an. Plötzlich war da ein Knistern zwischen uns, so laut, als würden im nächsten Moment die Funken sprühen. Ich nahm ihm die Sonnenbrille ab, setzte sie mir auf und brachte ihn zum Lachen. Am Anfang war noch Platz zwischen uns, als wir tanzten, doch irgendwann berührte mein Körper seinen. Es war einfach so passiert. Da war keine Angst, sondern wir ließen uns vom Rhythmus der Musik treiben. Glück strömte durch meinen Körper. Ich fühlte mich wieder frei mit ihm zusammen. Wie früher. Wir waren uns so nah, wie schon lange nicht mehr.

Lennart bewegte sich nach vorne und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. Ich glaube, er war sich genau so unsicher wie ich, ob wir uns küssen sollten oder ob es unpassend war, doch ich hatte nur auf ein Zeichen von ihm gewartet und gerade als er sich von meinen Lippen löste, schnellte ich mit meinen nach vorne und fing sie wieder ein. Ausgehungert küssten wir uns. Es waren diese Küssen, die man austauschte, wenn man total verrückt nacheinander war. Immer noch. 

„Fuck, was machen wir hier?“, hauchte Lennart gegen mein Ohr.

„Ich habe keine Ahnung…“ Ich hielt ihn fest in meinen Armen und roch an seiner Haut. Unsere Blicke trafen sich. Wir hätten in diesem Moment miteinander schlafen können, doch wir ahnten, dass es nicht unser Plan war. Ich war kurz davor mich von Christoph zu trennen und Lennart versuchte gerade herauszufinden, wer er war und sein Singledasein zu genießen. Es war kein Platz für mehr zwischen uns, als dieses Intermezzo.

Ich inhalierte beim Küssen seinen Duft, versuchte ihn in meine Erinnerungen einzusperren. Dann trennten sich unsere Lippen. Lennart beobachtete mich, nagte an seiner Unterlippe. Er schien zu überlegen, aber bevor er etwas sagen konnte, gab ich ihm einen Kuss auf die Wange, der ein oder zwei Sekunden dauerte, prägte mir das Gefühl seiner Haut ein, löste mich ein wenig widerwillig von ihm und verließ die Tanzfläche. Am nächsten Tag machten Christoph und ich Schluss.

Ich erzählte Christoph nie davon und auch Lennart verlor keinen Ton darüber. Es wurde unser erstes Geheimnis. Vielleicht wusste Christoph es mittlerweile, dafür war er aber sehr gelassen gewesen, wenn wir uns getroffen hatten. Oder es war ihm egal gewesen. Doch so war Christoph nicht.

Die Begegnung am heutigen Tag, hatte mich in die Realität zurück geschleudert. Lennart war mit Carl zusammen, einem Mann, der tausendprozentig in sein Beuteschema passte. Ich hatte mich damals oft gefragt, warum Lennart überhaupt mit mir zusammen gewesen war, weil er eindeutig auf ältere Männer stand und das könnte ich ihm nie bieten. Doch es gab einen Unterschied zu damals. Ich war nicht mehr der 19-jährige Kleinstadt-Junge mit einem gewaltätigen Vater und einer depressiven Mutter, der verloren durch sein Leben irrte. Ich wusste, wer ich war, auch wenn ich dafür alles zurücklassen musste.

Als die Tür zum Schlafzimmer aufging, war ich in einen unruhigen Halbschlaf verfallen. Sebastian legte sich neben mich. Er war angetrunken, versuchte jedoch leise zu sein.

„Bin noch wach“, sagte ich.

„Habe ich dich geweckt?“

„Nein, kann nicht wirklich schlafen.“

„Wegen Lenny?“, fragte er, doch ich sagte nichts.

„Ich glaube, es war keine gute Idee dorthin zu gehen. Ich habe ihn gesehen, mit diesem Carl. Er ist glücklich mit ihm. Ganz offensichtlich.“

Im Dunkeln spürte ich, dass Sebastian mich ansah.

„Schade, dass aus dir und Eric nichts Ernstes geworden ist.“

„Ja, finde ich auch. Aber so läuft das wohl manchmal.“

„Und jetzt?“

„Ich will gerade keine Beziehung. Tinder ist mein Freund.“

„Sagst du, dass du positiv bist?“

„Bist du verrückt? Dann würde ich nie wieder Sex haben können. Meine Viruslast ist unter der Nachweisgrenze und ich benutze Kondome. Ich möchte nicht jedes Mal abgewiesen werden, obwohl ich nicht ansteckend bin.“

„Kann ich verstehen. Jetzt sind wir beide wieder Single.“

„Und in Berlin.“

„Und in Berlin. Könnte schlechter sein, oder?“ Wir lachten.

„Bleibst du hier in Berlin?“

„Die Frage hat mir heute schon einmal jemand gestellt.“

„Lenny?“

„Ja.“

„Und? Bleibst du?“

„Ja.“

Wir schwiegen. Ich hörte ihn atmen. 

„Ich bin froh, dass du bleibst“, sagte Sebastian und berührte mich am Oberarm. „Schlaf gut. Und denk´ nicht so viel an ihn.“

Lennart

Die Begegnung mit Timo war wie ein Schuss ins Herz gewesen. Die offene Wunde klaffte immer noch und pulsierte Blut. Lennart hatte nicht erwartet, dass ihn das Treffen so erschüttern würde, hatte er doch in den letzten fünf Jahren damit abgeschlossen. Aber Timo hatte gut ausgesehen in seinem Edward Scissorhands Kostüm. Der Kuss mit Carl danach hatte nur halb so gut geschmeckt. Jetzt lag er neben Carl, in dessen Bett. Lennart starrte an die Decke und bekam kein Auge zu. Timo war also zurück und er blieb in Berlin. Und jetzt? Wollte er noch Kontakt zu ihm?

Ganz tief unten in seinem Herzen, da wo das Loch klaffte, das Timo heute Nacht hinterlassen hatte, hörte er ein schwaches „Ja“, das nicht aufhörte zu rufen. Sie könnten versuchen Freunde zu sein. Freunde. War das überhaupt möglich? Vorsichtig stieg Lennart aus dem Bett und schlich ins Bad. Er sah übernächtigt aus. Lennart drehte den Hebel auf kalt und klatschte sich das Wasser ins Gesicht. Er schaute wieder in den Spiegel. Tropfen liefen vom Kinn. Er nahm noch einen Schwall kaltes Wasser und verscheuchte seine Gedanken. Es war vorbei, er hatte doch damit abgeschlossen.

Im Spiegel traf er seinen Blick und spürte die pulsierende Wunde in seinem Herzen.

Timo

Nun, wo ich wieder in Berlin war, brauchte ich einen Job. Ich hätte Gabriel fragen können, den Besitzer vom kleinen Kaffee, in dem ich gearbeitet hatte, doch ich hatte das Gefühl, ich musste alles auf Anfang stellen. Also blätterte ich Anzeigen durch, lief durch die Straßen der Hauptstadt und hielt Ausschau nach Hinweisen, wer gerade Aushilfen suchte. Mein langfristiger Plan war es zu studieren. Ich hatte mich bereits bei der Universität registriert und wartete nun auf die Zusage für ein Studium. Ich wollte alles, nur nicht Arzt werden. Doch bis dahin dauerte es noch ein paar Monate und das Geld wurde langsam knapp.

Nachdem ich stundenlang durch die Gegend gelatscht war, mir Adressen notiert hatte, machte ich einen Abstecher zum Gleisdreieck. Die letzten Nächte hatte ich bei Sebastian in der Wohnung verbracht. Es war eng zu zweit, darum musste ich mir wohl oder übel auch noch eine neue Bleibe suchen. Bei Eric und Philipp wollte ich nicht einziehen. Zu viele Erinnerungen. Außerdem hatten sie bereits einen Mitbewohner. Warum hätten sie das Zimmer auch für mich reservieren sollen? 

Im Park setzte ich mich auf eine der vielen Bänke. Ich nahm einen Schluck von dem Kaffee in meinem Thermobecher und atmete tief durch. Es war seltsam wieder in Berlin zu sein. Mein Blick schweifte über das Grün. Ich beobachtete einige Parkbesucher beim Joggen, beim Gassigehen und auf der Wiesen liegen. Alles war so friedlich. Sogar die Vögel hörte ich zwischen dem Hintergrundlärm der Stadt zwitschern. Es war einer der Moment, wo ich mich tatsächlich hier zuhause fühlte. Und das, obwohl ich so lange weg gewesen war. Vielleicht war ich endlich angekommen.

Ich stand auf und ging den Kiesweg entlang, genoss die warme Luft, nahm noch einen Schluck Kaffee. Hunde schnüffelten an meinem Bein und liefen dann neugierig weiter. Es gab Momente im Leben, da glaubte man, dass es Zufall war, dass etwas geschah, vielleicht eine Sternenkonstellation, die gerade günstig stand oder Jupiter, der rückläufig war. Auf der Wiese mit einem Dobermann an der Leine stand Lennart. Er sah seinem Hund beim Häufchen machen zu und wühlte bereits einen Hundekotbeutel aus seiner Tasche. Innerhalb von zwei Wochen war es nun also das zweite Mal, dass wir uns über den Weg liefen.

Ich grinste in mich hinein, wie er den Beutel über seine Hand zog und den frischen Hundehaufen aufsammelte. Gelangweilt knotete er den Beutel zu, sah sich nach einem Mülleimer um und erblickte mich. Ich hob meine Hand zum Gruß. Lennart hob ebenfalls die Hand, zögerte jedoch einen Moment. Dann kam er langsam auf mich zu, seinen Hund hinter sich her ziehend, der war nämlich eher daran interessiert, welche anderen Hunde noch auf der Wiese umher gelaufen waren und schnupperte gierig am Boden umher.

„Du hast einen Hund?“, fragte ich.

„Nicht ich. Carl. Ich führe ihn nur ab und zu aus.“

Ich zeigte auf den Beutel und Lennart grinste.

„Kackibeutel sind nicht gerade der spaßige Teil daran.“

Wir lachten.

„Wie heißt er?“

„Dietrich.“

„Dietrich? Wie Marlene Dietrich?“

„Ja, wie Marlene Dietrich. Carl liebt ihre Filme.“

Carls Name ließ mich unmerklich zusammenzucken.

„Hab gehört, du bist bei Basti untergekommen?“, fragte er. Ich nickte.

„Ich suche ein Zimmer. Also, falls du etwas hörst, kannst du mir gerne Bescheid geben.“

Lennart lächelte. Einen Moment lang wussten wir nicht, was wir sagen sollte und grinsten nur verlegen.

„Ich hätte dich ja auf einen Kaffee eingeladen, aber ich sehe, du hast bereits einen.“ Er zeigte auf meinen Thermobecher.

„Ich würde gerne noch einen nehmen. Der ist nämlich leer.“ Zum Beweis schüttelte ich den Becher. Lennart warf den Hundekotbeutel in den nächsten Mülleimer und führte mich und den Dobermann aus dem Park zum nächsten Café. Eine Weile liefen wir schweigend nebeneinander her. Ich bobachtete ihn von Zeit zu Zeit. Er wirkte erwachsener. Seine jungenhaften Züge, die er einfach besaß, waren aber immer noch vorhanden.

„Was wirst du jetzt in Berlin machen?“, fragte er.

„Ich will studieren. Soziologie. Ich möchte irgendwann mit queeren Kindern und Jugendlichen arbeiten, die aus Familien kommen, in denen sie es nicht so einfach haben.“

„Das passt gut zu dir.“ Lennart lächelte.

„Und was machst du? Arbeitest du noch bei diesem Fotografen?“

Lennart nickte. „Carl hat mich gefragt, ob ich in seiner Werbeagentur arbeiten möchte, aber ich weiß nicht. Zusammen leben und zusammen arbeiten ist eben doch ein Unterschied.“

Wir erreichten ein kleines Café. Dieses Mal bezahlte ich und Lennart bedankte sich. Wir holten uns noch eine Zimtschnecke, setzten und draußen in die Sonne auf die Bank und teilten sie. Der Dobermann namens Dietrich legte sich neben Lennarts Beine auf den Boden.

„Er ist gut erzogen“, sagte ich.

„Alles Carls Verdienst. Er liebt diesen Hund abgöttisch.“

Die Zimtschnecke schmeckte köstlich. Mit einem kleinen Löffel teilten wir uns das Frosting, dass uns mitgegeben wurde. Es war beruhigend, dass wir noch Gespäche führen konnten. Es machte die Situation fast normal. Und trotzdem schwirrten in meinem Hinterkopf die Gedanken an die Vergangenheit.

„Erzähl mir von Asien“, sagte Lennart und leckte Frosting von seinem Finger.

„Was soll ich denn erzählen?“

„Warst du auch auf einer von den Full Moon Partys?“

„Nur auf einer?“

„Okay, okay. Ich war bisher nur auf einer. Thailand hat mir gut gefallen, auch wenn ich nur den Flughafen von Bangkok, Strand und das Hotel von innen gesehen habe. Ich würde gerne irgendwann noch einmal hinreisen, dann aber durch das Land fahren. So wie du. Bist du mit diesen Rollern gefahren.“

Ich nickte. „Das macht ziemlich Spaß, aber ich hatte auch ein paar Situationen, wo ich wirklich einen Schutzengel hatte. Die anderen Autofahrer fahren nämlich wie die Verrückten. Da wirst du mit deinem kleinen Roller auch schon mal auf der Straße übersehen.“

„Wo war es am schönsten?“, fragte er.

Ich starrte in meinen Kaffee, denn ich musste nicht lange überlegen. Es gabe eine Station auf meiner Reise, die ich nie vergessen würde.

„Auf Bali.“

„Deshalb bist du so lange dort geblieben?“

Ich nickte und spürte, wie es in meinen Augen brannte. Hoffentlich bemerkte Lennart es nicht. Schnell nahm ich noch einen Schluck Kaffee. 

„Auf Bali habe ich surfen gelernt“, sagte ich, um vom Thema abzulenken.

„Gibt es eigentlich eine Sportart, die du nicht kannst?“ 

„Kennst mich doch.“ Ich zwinkerte ihm zu und er lachte.

„Ich habe bald eine Ausstellung. Nichts Großes. Nur ein paar meiner Fotografien. Wenn du Lust hast, kannst du gerne vorbei kommen. Aber erwarte nicht zu viel. Es findet an einem Wochenende in einem kleinen Kunstraum statt. Keine große Vernissage, keine Presse. Nur ein paar Freunde, die auf meine Bilder starren werden.“ Lennart drehte den Becher in seinen Händen. Ich mochte es, wenn er verlegen war, dabei brauchte er es nicht sein. Seine Arbeiten waren hervorragend und es war nur eine Frage der Zeit, bis auch andere darauf aufmerksam werden würden.

„Ich komme gerne. Wo findet es denn statt?“

„Die Kontaktdaten schicke ich dir.“

Ich nickte. Lennart stand auf und Dietrich folgte sofort seinem Herrchen.

„Ich muss dann mal.“ Er zögerte, wollte noch etwas sagen, schluckte es aber hinunter. „War schön dich wieder zusehen.“

„Fand ich auch.“

Wir lächelten unsicher. Zum Abschied hob er die Hand. Ich hätte ihm gerne noch so viel gesagt, doch Lennart drehte mir bereits den Rücken zu und stolzierte mit Dietrich die Straße hinunter.

to be continued…?

Besucht auch mein Instagram-Profil und meine Webseite: https://www.instagram.com/julia.e.dietz

http://www.juliaedietz.de