Tyger, Tyger – Raus aus dem Schubladendenken
Schubladendenken kennt jeder. Meistens kommt der Begriff im Zusammenhang mit Vorurteilen und Voreingenommenheiten vor – „Alle Brillenträger sind schlau“ – „Kleine Kinder mögen keine Oliven“ – usw. usw. Auch aus der Schule kennen wir das Schubladendenken: Dass Geschichte, Kunst- und Deutschunterricht was miteinander zu tun haben könnten, merkt man meistens erst, wenn man erwachsen ist und plötzlich auf Querverbindungen stößt – oder gar nie. Nur weil ich in Kunst schon was über Allegorien gelernt habe, bedeutet das noch lange nicht, dass ich in der Deutschschulaufgabe den Begriff aus dem Stegreif anwenden kann – und wenn eine Schülerin das doch kann, Herr Deutschlehrer, ist das noch lange kein Grund, sie vor der ganzen Klasse als Musterschülerlein vorzuführen und die anderen als dumm hinzustellen … Ähem, wo war ich?
Ach ja, beim Schubladendenken. Denn das gibt es auch beim Schreiben.
Schubladendenken bei Schreiberlingen
Natürlich tritt das Problem mit den Vorurteilen und sachlichen Schubladen beim Schriftstellern genauso auf wie überall sonst. Aber bei uns kommt noch eine andere Form des Schubladendenkens mit dazu. Man kann auch Bequemlichkeit dazu sagen. Sind wir doch mal ehrlich: Wenn wir Schreiberlinge unseren Stil gefunden haben, dann bleiben wir auch meistens dabei. Am liebsten bewegen wir uns in Textarten und Sprachbereichen, in denen wir uns wohlfühlen. Und das ist auch völlig in Ordnung so.
Allerdings birgt diese Art von Schubladendenken das Risiko, dass wir faul werden und es uns im Gewohnten häuslich einrichten. Wer als Schreiberling nie etwas anderes ausprobiert, läuft Gefahr, immer nur Ähnliches zu schreiben, bis es ihm oder ihr selbst zu fad wird. Die Leser*innen haben zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich aber schon vor Langeweile das Weite gesucht, ehe der oder die Schriftsteller*in mal vorsichtig aus der Schublade hervorlugt.
Raus aus der Schublade mit Nonsense-Literatur
Damit das nicht passiert, gilt es für uns Schreiberlinge, uns immer wieder selbst herauszufordern. Versucht euch mal an einer anderen Textart und packt eine Thematik an, die ihr noch nie in den Blick genommen habt! Probiert andere Schreibstile aus und greift Schreibimpulse auf! Ich habe euch eine kleine Fingerübung mitgebracht, die gleich ins Extreme geht. So zwingt sie auch den bequemsten Schreiberling aus dem Schubladendenken heraus! 😉
Sie basiert auf einem Gedicht von Lewis Carroll, Autor von „Alice im Wunderland“ und Meister der Nonsense-Literatur. Er führt Texte inhaltlich und sprachlich an ihre Grenzen und darüber hinaus. In „Alice hinter den Spiegeln“ steht folgendes Lied über ein fürchterliches Ungeheuer:
’Twas brillig, and the slithy toves
Did gyre and gimble in the wabe:
All mimsy were the borogoves,
And the mome raths outgrabe.
“Beware the Jabberwock, my son!
The jaws that bite, the claws that catch!
Beware the Jubjub bird, and shun
The frumious Bandersnatch!”
He took his vorpal sword in hand;
Long time the manxome foe he sought—
So rested he by the Tumtum tree
And stood awhile in thought.
And, as in uffish thought he stood,
The Jabberwock, with eyes of flame,
Came whiffling through the tulgey wood,
And burbled as it came!
One, two! One, two! And through and through
The vorpal blade went snicker-snack!
He left it dead, and with its head
He went galumphing back.
“And hast thou slain the Jabberwock?
Come to my arms, my beamish boy!
O frabjous day! Callooh! Callay!”
He chortled in his joy.Lewis Carroll: Jabberwocky
’Twas brillig, and the slithy toves
Did gyre and gimble in the wabe:
All mimsy were the borogoves,
And the mome raths outgrabe.
Ein Schreibimpuls gegen’s Schubladendenken
Carroll arbeitet im Gedicht stark mit Lautmalerei – irgendwie versteht man FAST, was gemeint ist, doch nie GANZ. Den Rest muss die Fantasie besorgen. Ein solches Gedicht kann man natürlich schlecht übersetzen, eher nur nachdichten. Im Internet finden sich einige Versuche, z. B. von Robert Scott mit dem Titel Der Zipferlake. Eine andere berühmte Übersetzung stammt von Hans Christian Enzensberger. Mein Schreibimpuls an euch lautet jedoch nicht, den „Jabberwocky“ zu übersetzen, sondern euer eigenes Nonsense-Monster-Gedicht zu schreiben.
Erstellt zunächst eine Liste erfundener Wörter, die die Situation und das ‚Monster‘ beschreiben. Dies können zusammengesetzte Worte sein wie „Nasenzahn“ oder „Funkenschweif“, es können aber auch völlig frei erfundene Wörter sein, die vor allem über den Klang funktionieren wie in dem Jabberwocky-Gedicht.
Als nächsten Schritt könnt ihr dann einen Text über euer Wundertier schreiben. Am besten dabei so viele der erfundenen Wörter wie möglich verwenden!
Inspiration für euer Untier könnte ihr euch von diesen Bild holen:
Oder ihr sucht euch euer eigenes Monsterbild, z. B. auf Pixabay!
Mein Tigerdrach
Ich stelle diese Übung sehr gerne, um in meinen Schreibkursen das Schubladendenken aufzubrechen. Als ich den Schreibimpuls das letzte Mal ausgegeben hatte, hat das offensichtlich so viel Kreativität bei mir selbst freigesetzt, dass ein paar Wochen später ein Gedicht entstanden ist. 😉
Es ist nicht nur von Lewis Carroll inspiriert, sondern auch von dem Gedicht „The Tyger“ von William Blake – eines meiner absoluten Lieblingspoeme!
Der Tigerdrach
Hab acht vorm Tigerdrach, mein Kind,
zuvorderst vor der Tigerin. Ihr Aug glüht hell
in finstrer Nacht! Ihr Maul beißt scharf, drin wohnt
ein Tod, hat manchen Hold schon umgebracht.
Das Schwinggeschupp flauscht leiselich,
du hörst es nie in finstrer Nacht,
streicht es ganz sanft und heimelich
dir übers schlummernd Angesicht.
Doch ihr Feuer, Kind, brennt lichterloh,
die Flammen fauchen Untergang. O Kind,
verkriech dich, so sie naht, voll Wut, voll Zorn
voll Tatendrang. Verschlingen wird sie alle Welt
im Feuerrausch, o Graus, mein Kind,
und spuckt sie nächstens wieder aus.
Siehst du ihren Flügelschlag, dann lauf
und sei geschwind wie Wüstenwind,
denn manchem Hold wie dir, mein Sohn,
hat sie schon Lichternis gebracht.
Hab acht, hab acht vorm Tigerdrach,
so leuchtend in dem Wald der Nacht.
Mein „Tigerdrach“ treibt die Sprache nicht so an ihre Grenze wie der „Jabberwocky“. Aber meine Kreativität wurde angestachelt, etwas ganze Neues und ziemlich Anderes zu schreiben. Und das ist noch nicht das Ende der Geschichte.
Meine Narrenbraut
Da hatte ich dann also mein Tigerdrach-Gedicht. Es gefiel mir ganz gut, ich wusste aber nicht so recht, wohin damit. Nun bin ich gerade dabei, den 3. Band meiner Zukunftsromanreihe „Die Erste Tochter“ zu überarbeiten. Und unverhofft kam ich an eine Szene, in der ich plötzlich ein Lied brauchte. Mit dem „Tigerdrach“ im Hinterkopf ist dann Folgendes dabei rausgekommen:
Als ich mich schließlich halbwegs ausgeweint hatte, schob ich den Äther-Artikel beiseite und wandte mich wieder der Holominiatur mit dem Protestzug der Töchter der Lchnadra zu, aktivierte diesmal auch den Ton. Die grauen Frauen, die durch die entweihten Straßen meiner Stadt marschierten, sangen wieder. Doch dieses Mal war es nicht das machtvolle Lied von der Kriegerin, die aus der Asche auferstehen würde. Diesmal, so schien es, war die Kriegerin längst zum Leben erwacht, und sie hatte nichts Diesseitiges an sich. Es war ein Lied mit uralten Ideen, aber ich hatte es nie zuvor gehört:
Die Drächin kommt, habt acht, habt acht! Sie kommt, sie kommt, die Maknaach. Ihr Aug glüht hell, ihr Maul beißt scharf! Drin wohnt ein Tod, drin wohnt ein Schmerz, der jeden trifft, der Unrecht sprach. Die Schwingen streichen leis und still, du hörst sie nie – nie, bis sie kommt! Ihr Feuer, das brennt lichterloh! Sie naht, sie naht, voll Wut, voll Zorn, voll Tatendrang, mit Fang und Krall! Sie kommt mit Lanze, kommt mit Licht, die Flammen fauchen Untergang. Und manch einem, der da Unrecht sprach, hat sie schon ewge Lichternis gebracht! Habt acht, habt acht, sie kommt, sie kommt, sie kommt und brennt, die Maknaach!
Wo das erste Lied eine Hoffnung, ja einen Triumph besungen hatte, war dieses Lied eine Drohung. Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. Die Maknaach zu beschwören, das war ein Akt der Düsternis.
Ich holte tief Atem und erhob mich mühsam vom Boden meines Boudoirs. Still schaltete ich die Holominiatur aus und versteckte den Speicherstab wieder zwischen den Kleidern im Container. Es war mir ein Rätsel, wie er da hineingekommen war.
Auszug aus: Die Erste Tochter 3 – Narrenbraut
Inspiration ist etwas Schönes
Was die Szene zu bedeuten hat und wer die „Maknaach“ ist, wird an dieser Stelle noch nicht verraten. 😉
Nur so viel sei gesagt: Das harmlose Liedchen, das sich über Umwege gedichtet hat, wird noch viel Bedeutung bekommen! Und alles nur wegen eines Ausbruchs aus dem Schubladendenken! 🙂
Wer mehr über mein Zukunftsepos „Die Erste Tochter“ erfahren will, findet Einblicke auf der Website zum Buch www.die-erste-tochter.de