Sophie Teil Zwei

Sophie Teil Zwei

12. Januar 2020 1 Von Nessa Hellen

Vorab

Die erste Mini-Fantasy-Serie von Nadine Braun. Wer den ersten Teil noch nicht kennt, diesen aber gerne kennen lernen möchte, folgt bitte diesem Link: http://schreiberundsammler.de/sophie/
Wer weiter lesen will muss Garnichts weiter tun, außer runter scrollen!

 

Nachbarschaft

Sophie läuft. Schneller und schneller. Sie will sich nicht umsehen. Weiter zum Parkausgang. Das kann nicht sein! So etwas gibt es nicht! Sie erreicht die Straße. Niemand folgt ihr, doch sie kann nicht aufhören zu rennen. Sie atmet kurz, ihre Beine schmerzen. Die Hauptstraße ist zugeschneit. Schwerer Schnee stapelt sich im Rinnstein. Beinahe rutscht sie darauf aus. Egal! Weiter! Das im Park…Ein…!Ja? Was war es denn eigentlich? Nein! Das gibt es nicht. Das ist nicht real!

Die Straßen sind immer noch so leer wie in einer Eiswüste. Sie fummelt mit zitternden Händen den Hausschlüssel in die Eingangstür. Er fällt zu Boden. Sie hebt ihn hektisch auf und hält Inne. Dreht sich um. Schneegestöber wirbelt um ihre Füße und über den Gehweg.

Da ist niemand hinter dir her! Sophie van der Stett. Beruhige dich! Sie sperrt die Türe auf. Um ganz sicher zu gehen schließt sie hinter sich ab. Dann muss sie sich am Treppengländer festhalten. Sie atmet tief ein. Als sie sich einigermaßen sicher fühlt, wirft sie nochmal einen Blick durch die gläserne Eingangstür. Ein Schauer läuft ihr über den Rücken. Das was da draußen ist, sieht aus wie eine Geisterstadt. Die Stille ist so laut, dass es kaum auszuhalten scheint. Wo sind die ganzen Leute? Um diese Uhrzeit? Frau Yilgün müsste ihre Mädchen jetzt in den Kindergarten bringen und Herr Peters über ihr geht um diese Zeit immer joggen. Sie begegnet ihm jedes Mal wenn sie aus dem Park kommt.Und überhaupt, was war das da im Park?

Als Sophie wieder in ihrer Wohnung ist, versucht sie sich zu beruhigen. Sicher hat alles seinen Grund. Vielleicht ist Frau Yilgün schon früher los, wegen dem Schnee und Herr Peters ist wegen der Kälte bestimmt krank. Der geht ja immer joggen, egal bei welchem Wetter und immer in diesen dünnen Funktionsklamotten. So wird es sein. Und das Wesen im Park? Sie wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn. Das was sie gesehen hat ist nicht real. Nein. Das kann nicht sein!
Sie schaut im Fernseher nach den Nachrichten. Doch sie hat auf keinem Sender Empfang.
Dann schaltet Sophie das Radio an. Es startet den Suchdurchlauf. Ihr Sohn Felix hat ihr das digitale Gerät zum Siebzigsten Geburtstag geschenkt.
Sehr praktisch, hat er gesagt. Du kannst alle Sender speichern die du gern magst…
Sie bekommt den Impuls mit ihm zu sprechen. Warum weiß sie nicht so ganz. Sie ruft ihn an, um ihn zu fragen ob alles in Ordnung ist. Doch die Leitung ist tot. Mit zitternden Händen wählt sie Magdas Nummer. Ihre Tochter ist um diese Zeit beim Arbeiten, immer hat sie viel zu tun, aber sie versucht es trotzdem. Ohne Glück.
„Was ist hier los, Karl?“, flüstert sie dem schicken Mann im Anzug auf dem eingerahmten Schwarz-weiß-Foto am Fensterbrett zu. Karl lächelt sie von dort aus mit warmen Augen an. Er würde sagen, dass das Wetter schuld ist. Die Telefonleitung irgendwo gerissen sei, wegen dem vielen Schnee. Bestimmt kümmert sich jemand darum. Für eine Sekunde fehlt ihr Mann ihr unendlich. Er wusste immer was zu tun ist und seine tiefe Stimme beruhigte sie. Bewahre Ruhe, Sophie van der Stett. Doch sie schiebt den Gedanken an ihn beiseite.

Schaut durch die Fensterfront in der Küche. Schneegestöber über einer sonst sehr belebten Stadt. Sie sieht keine Autos und keine Menschen. Nur endloses Weiß. Der Park wirkt, als würde er zurück starren. Die schneebedeckten Baumkronen scheinen mit dem Boden und der Straße zu verschmelzen. Von dem Wesen keine Spur. Wie denn auch? Schließlich war es ja nur eine Einbildung! Es gibt ja schließlich keine…
Das Gerät meldet, dass eine Verbindung zum Internet nicht möglich ist. Sie holt ihren alten Radio aus dem Schlafzimmer, steckt ihn ein und schaltet ihn an. Zuerst vernimmt sie nur ein dumpfes Rauschen. Sie dreht an einem schwarzen Rädchen und versucht einen Sender zu finden. Mit Erfolg. Endlich kämpft sich eine weibliche Stimme im Nachrichtenmodus durch das Gerausche. Sie macht lauter. Bevor sie etwas versteht, klingelt es an der Haustür. Felix! denkt sie aus irgendeinem Grund und eilt zur Wohnungstür. Schnell kommt die Ernüchterung. Vor ihr steht Frau Krampe. Sie hält Sophie eine pinke Kinderjacke vor die Nase.

„Frau Kr….“
„Raten Sie mal wo ich das gefunden habe!“, beginnt sie sofort und drängt sich durch Sophies Haustür.
Sie presst ihren Kiefer zusammen. Die hat ihr jetzt gerade noch gefehlt. „Kommen Sie doch rein“, knirrscht sie widerwillig.
Jetzt steht Frau Krampe mit dem pinken Teil auf dem Arm mitten im Flur und Sophie ist sicher, dass sie gleich über irgendeinen Nachbarn her ziehen wird. Im Hintergrund spricht die weibliche Stimme weiter. Nur leider versteht Sophie nichts.
„Und?“
Sophie zieht die Schultern hoch. Im Moment kann sie nur an das Radio in der Küche denken.
„Na raten sie mal!“
„Ich weiß es nicht“, sagt Sophie, immer noch nur halb bei der Sache.
Endlich löst sie das Rätsel: „Im Treppenhaus! Wo denn sonst.“
„Aha“, sagt Sophie.
Frau Krampe verschränkt triumphierend die Arme. „Ich sags ja.“
„Ja, das ist wirklich schrecklich. Leider habe ich grade zu tun…“
„Können Sie vielleicht das Radio leiser machen? Ich verstehe Sie ja kaum!“
Sophie seufzt und geht in die Küche. Die schwerhörige Nachbarin verfolgt sie, stellt sich an das Fenster und guckt seitlich durch die Scheibe, als hätte sie Angst hinaus zu fallen. Zumindest versteht Sophie endlich etwas. Die Frau in den Nachrichten erzählt von Absperrungen ausserhalb der Gefahrenzone. Noch sei unbekannt, was das seltsame Phänomen ausgelöst habe. Die Menschen werden aufgefordert die Stadt München nicht zu betreten. Sophie sieht Frau Krampe an. Die scheint mal wieder nichts zu verstehen und dreht die pinke Jacke in ihren Händen. Gerade will sie ansetzen, da fährt ihr Sophie über den Mund.
„Hören Sie zu!“ Sophie dreht lauter.
Frau Krampe guckt erst verdutzt, dann grimmig. Doch nach und nach verändert sich dieser Gesichtsausdruck.

Ich widerhole. An alle Menschen die auf dem Weg nach München sind. Die Stadt sollte nicht betreten werden. Noch ist nicht bekannt was das Phänomen ausgelöst hat. Fast alle Bürger sind auf unerklärliche Weise verschwunden.Telefon und Internet sind ausgefallen. Straßenbahn und U-Bahn können wegen starkem Kälteeinbruch von über 35 Grad Minus nicht weiter fahren. Es ist noch nicht klar, ob es sich um einen Anschlag handelt. Die Bundeswehr kann nicht in den Stadtkern vordrängen, weil die gefrorenen Schneemassen die Straßen versperren. Wenn Sie das hören bleiben Sie bitte in ihren Wohnungen oder Häusern.

Sie sehen sich schweigend an. Der erste Gedanke der Sophie kommt ist, warum ausgerechenet Frau Krampe zu denen zählt die nicht verschwunden sind. Dann fallen ihr Felix und Magda ein. Beide wohnen in München. Sofort greift sie nochmal nach dem Telefon, obwohl sie weiß, dass es nichts bringt und wählt Felix Nummer. Voller Verzweiflung denkt sie an Marie, seine Ehefrau und ihre kleine Enkelin Sophie, die sie nach ihr benannt haben. Doch es gibt nur ein Klicken in der Leitung. Sonst nichts. Sie legt das Telefon ab. Frau Krampe ist plötzlich so still. Das ist sehr ungewöhnlich, aber auch angenehm. Sophie mustert ihren fragenden, fast schon überforderten Gesichtsausdruck und ihr fällt ein, dass sie auch eine Tochter hat. Jedenfalls hat sie das einmal erzählt. Doch gesehen hat Sophie sie nie. Frau Krampe ist zehn Jahre älter als sie und wohnt nebenan, seit dem Sophie mit Karl und ihren Kindern in dieses Haus gezogen ist.

Für einen Moment scheint Frau Krampe wie paralysiert. Dann fängt sie sich wieder. Sie hat die pinke Kinderjacke unter ihrem Arm und hebt den Zeigefinger.

„Jetzt ist das passiert was ich immer schon vorausgesagt habe.“

Sophie erinnert sich, dass Frau Krampe schon viel voraus gesagt hat. Auch heute.

„Die hätten diese Asylanten nicht reinlassen sollen….“ Frau Krampe redet weiter und eine leichte Verärgerung macht sich in Sophie breit, die aber sofort von etwas abgelöst wird, dass sich anfühlt wie eine Mischung aus Angst und ungläubigen Staunen. Dann hört sie ihr nicht mehr zu. Ihre ganze Aufmerksamkeit gehört der Bewegung die sie wahrnimmt, als sie kurz aus dem Fenster neben Frau Krampe sieht. Ein großer weißer Körper, etwas das aussieht wie ein Flügelschlagen, sich auch so anhört, für den Bruchteil einer Sekunde, direkt vor ihrer Fensterscheibe. Und dann ist es weg. Das Wesen aus dem Park! Kurz werden ihre Fingerspitzen taub. Es ist Richtung Dach geflogen! Auf ihr Dach! Direkt über ihr.

„Hallo? Hören Sie mir überhaupt zu?“ Frau Krampe holt sie aus ihrer Erstarrung. Sie muss etwas trinken. Es liegt bestimmt daran. Flüssigkeitsmangel hat der Arzt gesagt kann sehr schlimm für Körper und Geist sein. Ihr Verstand spielt ihr einen Streich. Es gibt keine andere Erklärung. Nein, nein, nein.
„Nein, das kann nicht sein“, hört sie sich flüstern.
„Wie bitte?“
Sie erschrickt kurz, weil sie ihren Gedanken laut ausgesprochen hat. „Ich meine, das kann doch nicht sein!“, versucht sie zu retten und hofft, dass es zu dem passt was Frau Krampe als letztes gesagt hat. Im Normalfall tut es das.
Die schenkt ihr einen zustimmendes, fast überlegenes Lächeln. „Ich sag´s Ihnen ja. Alles Verbrecher!“
Sophie holt sich ein Wasserglas aus der Spüle, füllt es auf und trinkt in einem Zug. Es ist eiskalt und schmerzt im Hals.
„Wollen Sie auch etwas?“, frägt sie.
Frau Krampe umarmt sich selbst. „Brr, nein. Dazu ist es mir zu kalt. Es ist aber auch eisig bei Ihnen!“
Sophie erinnert sich daran wie bitterkalt es im Park war. Als sie dieses Etwas gesehen hat. Ihre Finger waren mit Frost überzogen. Sie sieht auf das Termostat das neben dem Fenster hängt. Es stimmt. In ihrer Wohnung ist die Temperatur gesunken. Sie liest: 12 Grad. Heute morgen hat es noch 20 Grad gehabt. Sophie checkt die Heizung neben Frau Krampe und stellt fest, dass sie funktioniert, nur die Wärme ist futsch. Als hätte sie jemand aus dem Raum gesaugt. Das muss mit diesem Wesen zu tun haben, denkt sie. Vielleicht sitzt es jetzt genau über ihnen. Auf dem Hausdach. Sie guckt unbewusst Richtung Decke, lauscht, aber die Mauern sind wahrscheinlich zu dick, um etwas zu hören. Krampe folgt ihrem Blick.
„Sie sind heute aber komisch!“, sagt sie.
Sophie merkt es und erzwingt sich ein Lächeln. Frau Krampe hört nicht nur schlecht, sie hat auch Probleme sich Dinge zu merken, die gerade eben passiert sind. Ausser wenn ein Nachbar etwas ihrer Meinung nach Falsches tut. Das vergisst sie nicht.

„Da haben Sie recht. Wissen Sie was? Ich sollte mich ein bisschen hinlegen. Und das sollten Sie vielleicht auch“, sagt Sophie. „Das alles macht Sie bestimmt sehr müde.“
„Meinen Sie?“
„Ja“, sagt sie mit sanfter Stimme und legt Frau Krampe ihre Hand auf den leicht gekrümmten Rücken, schiebt sie vorsichtig Richtung Haustür. Sie lässt sich antreiben. Mit mütterlicher Fürsorge wird sie ihre Nachbarin meistens los. „Ich bringe sie jetzt in Ihre Wohnung, da mache ich Ihnen eine Wärmflasche und einen Tee. Sie versuchen ein bisschen zu schlafen. Was halten Sie davon?“
Frau Krampe nickt. „Und was mache ich damit?“ Sie hält die Kinderjacke hoch.
„Das können Sie mir geben.Ich kümmere mich darum.“ Das sagt sie meistens, wenn ihre Nachbarin wieder mit neuen Kleidungsstücken anderer Leute auftaucht. Oft hat sie diese aus dem Kinderwagen geklaut oder Schuhe vom Flur mitgenommen. Das vergisst sie dann und behauptet, sie hätte sie im Treppenhaus gefunden. Sophie übergibt sie dann ihren Besitzern und erklärt ihnen die Lage. Sie hat jahrelang im Altersheim gearbeitet und kennt die Umstände. Deswegen kommt Frau Krampe auch zu ihr, wenn wieder etwas ist.

In Frau Krampes Wohnung macht Sophie das was Sie schon seit Jahren tut. Sich um alte Menschen kümmern. Sie bringt ihre Nachbarin ins Bett, macht ihr eine Wärmflasche und einen Hibiskustee, den sie besonders gern hat und verspricht nacher nach ihr zu schauen. Dafür hat sie einen Zweitschlüssel. Manchmal kommt sie vorbei um der alten Dame im Haushalt zu helfen, oder um ihr Essen vorbei zu bringen. Sie ist selbst nicht mehr die Jüngste, doch Sophie kann es nicht mitansehen wenn ältere Menschen von ihrer Familie im Stich gelassen werden oder keine Familie mehr haben. Einen Mann hat sie auch nicht. Selbst solche wie Frau Krampe brauchen dringend Menschen wie sie.

Sophie sitzt am Bettrand und streichelt ihr über die faltige Stirn, singt ihr ein altes Lied vor, dass sie von ihrer Mutter mit sechs Jahren das erste Mal gehört hat. Da beginnt die alte Dame immer zu lächeln. Sie weiß nicht, ob Frau Krampe das Lied auch kennt, aber sie weiß, dass es ihr immer beim einschlafen hilft. Sie nuschelt noch irgendwas über den scheinbaren Anschlag der Asylanten, bevor sie friedlich eindöst. Sophie verlässt ihre Wohnung.

Unschlüssig bleibt sie im Hausflur stehen. Dreht ihren Schlüsselbund zwischen den Fingern. Den Blick auf den letzten Treppenaufgang. Das gesamte Gebäude ist so ungewohnt still, dass es ihr Angst macht. Normalerweise hört man um diese Zeit bei Herr Schmitt, der schräg gegenüber wohnt den Fernseher. Und das junge Paar daneben disskutiert Tag für Tag lautstark über verschiedene Dinge. Sie hört von draußen den Wind durch das Dachgeschoss pfeifen und Schneeflocken gegen die Fenster im Hausflur prasseln. Neben dem Zugang zum Dachboden, der immer extrem nach Lenor riecht,weil dort die Wäscheleinen hängen, gibt es einen Aufgang zum Flachdach des Gebäudes. Sie war noch nie dort und weiß deshalb nicht, ob der Zugang abgesperrt ist. Normalerweise sollte es so sein. Das hat sie sich jedenfalls früher immer gedacht, als Felix und Magda noch Kinder waren. Jetzt drängt sie irgendetwas dazu hinauf zu gehen und nach diesem Wesen zu schauen. Sie glaubt immer noch nicht, dass es real ist und erwartet deshalb nichts. Doch die Neugierde packt sie immer mehr. Sie ist fast stärker als die Angst. Wenn es real ist, dann hätte es ihr bestimmt schon längst etwas getan, wenn es das wollte. Und falls es tatsächlich existiert, dann ist es vielleicht auch schon weiter geflogen. Sie muss kurz über ihre Gedankengänge schmunzeln. Lächerlich, denkt sie. Wenn dich etwas nicht los lässt, dann beschäftige dich für eine Stunde damit, prüfe ob es stimmt und dann wird es dich in Ruhe lassen. Für Karl gab es für jedes Problem eine Lösung. Und Sophie weiß, es wird sie nicht los lassen. Sie muss unbedingt nachsehen.