Warten

Warten

20. Oktober 2019 0 Von Valentina Baumgartner

Eine kurze Geschichte über das Warten am Bahnhof.

 

Die beiden Jungs stehen am Bahnsteig 9. Im Viereck aus gelben Linien, das den Raucherbereich markiert. Sie teilen sich eine Zigarette. Die Aschetonne zwischen ihnen. Dicke Schneeflocken fallen auf die Schienen neben dem Bahnsteig.

Ben blickt auf die Uhr auf seinem Handy, dann zurück auf die Anzeige über ihnen. Noch eine Minute. Moritz lehnt an der halbhohen Trennwand. Versucht halbherzig seine Augen offen zu halten.

Es ist zehn Uhr morgens. Samstag.

Der Lautsprecher knackt. Die Frauenstimme ist so verzerrt, dass man sie fast nicht versteht. „RE 301256 aus Siegburg-Bonn 10 Minuten Verspätung. RE 301256 from Siegburg-Bonn delayed 10 minutes.“

„War ja klar.“ Moritz richtet sich auf. Er reicht Ben die Zigarette. „Ich hol mir einen Kaffee. Du?“

„Ja. Bitte. Bringst du Anna auch einen mit?“

„Was für einen?“

„Cappuccino.“

Moritz nickt. Er steckt seine Hände in die Jackentaschen und zieht die Schultern hoch. Dann läuft er die Treppe hinunter zum Bahnhofsgebäude.

 

Ben blickt wieder auf die Anzeige. Ein Informationsbanner läuft durch, der die Verspätung ankündigt. Eine einsame Schneeflocke verirrt sich auf seine Stirn. Er wischt sie mit dem Handrücken weg. Er hätte sich Handschuhe mitnehmen sollen. Ben holt sein Handy ein zweites Mal hervor. Öffnet den Chat mit Anna. Er liest die letzten Nachrichten durch. Alle von ihm.

„Hat doch geklappt. Sind jetzt am Bahnhof. Freu mich schon.“

„Sind im Stau. Könnte sein, dass wir später kommen. Sorry.“

„Guten Morgen. Bleibt es bei dem Zug um 10 Uhr?“

„Egal, können wir dann ja noch besprechen.“

„Hast du Lust auf ein Konzert im Irish Pub morgen Abend?“

„Hab es geklärt. Moritz fährt. Wir holen dich am Samstag um 10 Uhr.“

„Klar, würde mich freuen. Ich frag mal Moritz, ob er fahren kann.“

„Samstag, 10 Uhr. Am Hauptbahnhof – ich komm dich besuchen.“

Das war die letzte Nachricht, die er von Anna bekommen hatte. Donnerstag um 3 Uhr morgens.

 

Schritte nähern sich. Moritz ist wieder da. Mit drei Kaffee To Go in einer Papphalterung.

„Hat sie geschrieben?“ Er nickt in Richtung Handy.

„Nein, noch nicht.“ Ben steckt es wieder zurück in seine Hosentasche. „Danke, dass du fährst!“

„Kein Stress.“ Moritz reicht ihm einen Kaffeebecher. „Das müsste deiner sein.“

Sie trinken schweigend. Die Wärme breitet sich wohltuend aus.

„Wann bekommst du deinen Führerschein eigentlich wieder?“

„In zwei Wochen.“

„Krass, ist das jetzt auch schon wieder drei Monate her?“

Ben nickt.

„Und der Golf?“

„Den haben meine Eltern meiner Schwester gegeben. Ihr altes Auto war eh kaputt. Den bekomm ich erstmal nicht mehr.“

„Recht haben sie.“ Moritz grinst.

„Na ja… Davor ist nie irgendwas passiert.“

Ben blickt wieder auf die Handy Uhr. Dann auf den Chat mit Anna.

Moritz zückt sein Handy ebenfalls. Mehrere Sprünge zieren den Bildschirm. Schon seit Monaten. „Mir hat sie auch nicht geschrieben.“

„Hat sie deine Nummer?“ Betont beiläufig.

„Jap, sie hat sie mir beim letzten Mal eingespeichert.“

„Schreibt ihr manchmal?“

Moritz sieht von seinem Handy auf. Zieht die Augenbrauen hoch. „Alter, du solltest es ihr mal sagen.“

„Was?“

„Was?“, ahmt Moritz ihn nach.

„Ja, was?“ Ben steckt sein Handy zurück.

Moritz schüttelt grinsend den Kopf. „Du könntest ihr mal sagen, warum du deinen armen Mitbewohner am frühesten Morgen nach der Hausparty bei Tom aus dem Bett zerrst, damit er dich zum Bahnhof fährt.“ Er gähnt.

„Es ist zehn Uhr.“

„Ich bin erst um acht heimgekommen.“

„So lange ging es noch?“

„Hast nicht viel verpasst. Wir sind hauptsächlich rumgesessen und Tom hat Scheiße gelabert.“

 

Der Lautsprecher über ihnen knackt ein weiteres Mal. „RE 301256 aus Siegburg-Bonn weitere 10 Minuten Verspätung. RE 301256 from Siegburg-Bonn delayed further 10 minutes.“

„Ach, komm schon!“ Moritz ruft protestierend hinauf zum Lautsprecher. „Lass uns in den Bahnhof gehen. Ich erfriere hier“, schlägt er dann vor.

Ben nickt.

Im Tunnel unter den Gleisen riecht es nach Pisse. Das Gesetz des Bahnhofs.

Sie treten in die Wartehalle. Moritz steuert auf die Sitze in der Mitte der Halle zu. Er wirft sich auf einen. Neben ihm eine rundliche ältere Frau, die irritiert ihre Tasche noch enger an sich zieht. Er blickt sich kurz nach ihr um. „Sorry.“

Dann holt er den dritten Becher Kaffee aus der Papphalterung. „Ich trink den mal, der ist eh kalt bis Anna kommt.“

Ben nickt. „Können ihr dann einen neuen besorgen.“ Er setzt sich neben Moritz. Schaut hinauf auf die Anzeige der ankommenden Züge. Annas ist der Einzige mit Verspätung.

Moritz nippt am Kaffee. Dann rutscht er in seinem Sitz nach unten. Streckt seine Beine aus. Den Becher stellt er auf die Armlehne zwischen sich und der Frau. Seufzt und schließt seine Augen. Die Frau neben ihm beobachtet den Becher unruhig. Die Armlehne ist schmal. Sie ist im Begriff aufzustehen. Ben lehnt sich über Moritz und nimmt den Becher an sich. „Den kannst du hier nicht so stehen lassen, Alter. Der kippt sicher um.“

Moritz brummelt leise mit geschlossenen Augen. Die Dame nickt Ben kurz zu, lehnt sich wieder etwas zurück.

Ben holt ein weiteres Mal sein Handy hervor. Immer noch keine Nachricht von Anna. Ihr letzter Besuch ist fast drei Monate her. Dazwischen hatten sie sporadisch geschrieben. Hauptsächlich er.

Moritz‘ Kopf fällt zur Seite. Ein leises Schnarchen kommt aus seinem Rachen. Die Frau neben ihm blickt irritiert hinüber.

 

Lichtkegel der Laternen erleuchten die Straße punktuell. Moritz schläft auf dem Beifahrersitz neben ihm, schnarcht leise vor sich hin.

„Fahr schneller, Ben!“ Sie sitzt hinter ihm auf der Rückbank und umfasst mit ihren Händen seine Kopflehne.

„Ich fahr schon fast siebzig. Das hier ist noch Innerorts.“

„Hier ist doch kein Schwein. Und die Straße ist schnurgerade. Fahr schneller!“

Er drückt das Gaspedal durch. Moritz wacht bei der plötzlichen Beschleunigung auf. Er verschluckt sich. Hustet, schaut sich verwirrt um.

Anna lacht. Wirft sich ihn ihrem Sitz zurück. Ben beobachtet sie im Rückspiegel. Glitzernde Augen, breites Grinsen. „Yes!“, ruft sie.

Ein kurzes Signal einer Sirene ertönt. Blaues Licht erhellt Annas Gesicht im Rückspiegel. Sie wendet sich um.

„Scheiße…“, murmelt Ben.

 

Der Lautsprecher in der Bahnhofshalle knackt. Die verzerrte Durchsage wird von dem hektischen Treiben in der Bahnhofshalle fast verschluckt. „Einfahrt RE 301256 aus Siegburg-Bonn. Gleis 9. Arrival RE 301256 from Siegburg-Bonn. Platform 9.“

Ben schreckt auf. Er stupst Moritz an der Schulter an.

„Ich bleib hier. Kommt dann einfach“, murmelt dieser im Halbschlaf.

„Okay, bis gleich.“

Ben hält sich zurück, nicht in Richtung Gleise zu rennen. Er überholt einige Grüppchen an Reisenden, fädelt sich durch die Menschenmengen durch. Nimmt zwei Treppenstufen auf einmal hinauf auf die Plattform.

Eine dünne Schneeschicht liegt auf dem einfahrenden roten Zug. Mit quietschenden Bremsen kommt er auf dem Gleis zum Stehen. Innerhalb von Sekunden füllt sich der Bahnsteig mit Reisenden. Grüppchen, Alleinreisende. Koffer, Rucksäcke, Taschen. Begrüßungen am Gleis. Weiterlaufen. Den Mantel enger ziehen. Nach vertrauten Gesichtern umschauen.

Ben streckt sich. Er ist groß genug, um über die meisten Menschen zu blicken. Aber der Zug ist lang. Er zückt sein Handy. Am besten, er schreibt ihr kurz. „Ich bin im Abschnitt A. Ganz vorne bei der Treppe.“

 

So schnell wie sich das Bahngleis gefüllt hat, wird es auch wieder leer. Ein paar verirrte Reisende laufen noch an ihm vorbei. Der letzte Passagier steigt in den Zug, bereit für die Weitefahrt.

Ben sieht sich um. Aktualisiert Annas Chat. Vielleicht hat er kein Netz? Oder sie? Vielleicht ist sie an ihm vorbei, ohne ihn zu sehen? Unschlüssig steht er am Bahngleis. Eine Schneeflocke fällt auf seine Wange.

Er drückt den grünen Hörer auf seinem Handy. Es klingelt kurz. Dann Annas verschlafene Stimme. „Ben? Ach, sorry. Wie spät ist es? Sorry, ich wollte dir noch schreiben. Ich komm doch nicht dieses Wochenende. Gestern war eine Party, ich schlaf noch so halb.“

Ben legt auf. Er bemerkt, dass er immer noch den Kaffeebecher für Anna in der Hand hält. Er holt aus und wirft ihn auf den Zug vor ihm. Trifft ein Fenster. Der Mann dahinter blickt erschrocken von seinem Laptop auf.

Ben stopft sein Handy zurück in die Tasche. Rennt die Treppenstufen in den stinkenden Tunnel zurück.

 

Moritz schläft noch in seinem Sitz in der Wartehalle. Die Dame neben ihm ist weg.

„Lass gehen“, murmelt Ben.

„Sie kommt nicht.“ Moritz klingt nicht überrascht. Er rappelt sich auf. Legt seinen Arm um Bens Schulter. „Lass uns zu McDonalds fahren. Hab Hunger.“

Bens Handy vibriert. Er zieht es abwesend aus der Hosentasche.

„Ich les es erst jetzt. Tut mir echt Leid, Ben. Beim nächsten Mal, okay?“ Hat sie geschrieben.