Der Nachtmarkt
In dieser kleinen Geschichte entdeckt Ava den Zauber des Nachtmarkts.
Der Verkäufer neben ihr trat aus seiner bunt beleuchteten Bude und schüttelte sich die Beine aus. „Ich mache Schluss für heute. Ist eh nichts mehr los.“
Ava nickte ihm zu und lächelte schwach. Sie sah die Gasse hinunter, in der ihre Buden standen. Die anderen Verkäufer waren ebenfalls schon dabei, ihre Geschäfte zu schließen. Das Kettenkarussell, das sich über die Dächer der Stände erhob, stand schon eine Weile still. Aus den Boxen dröhnte noch die blecherne Musik.
Eine Gruppe Jugendlicher torkelte an ihnen vorbei. Ein Mädchen löste sich daraus. Sie hatte kurze blaue Haare, nass vom Nieselregen. „Schau mal! Eine Kristallkugel“, rief sie lachend, als sie Avas Stand erreicht hatte. Einer der anderen Jugendlichen kam ihr hinterher. Das Mädchen legte ihre Hände über die Kugel, als würde sie sie streicheln. „Ich sehe… Kopfschmerzen. Übelkeit. Einen Kater!“ Ihr Freund lachte. „Einen schwarzen Kater.“ Das Mädchen hob die Glaskugel an. „Ooh, das bringt Unglück.“
Ava erhob sich, machte einen Schritt auf die beiden zu, duckte sich durch ein paar herunterhängende Perlenketten hindurch, die sie an der Decke aufgehängt hatte. Sie streiften an ihren Schultern. „Die Ware bitte nicht berühren“, sagte sie. Zu leise.
Das Mädchen kicherte. „Was?“
Ava strich ihre nassen Handflächen an der Hose ab, setzte erneut an. „Bitte, die Ware nicht…“
Der Rest ihres Satzes wurde übertönt vom Ratschen eines Rollladens, als ihr Nachbar seinen Stand schloss.
Die Blauhaarige sah zu ihrem Freund und grinste. Sie legte die Kristallkugel wieder zurück in die Halterung. „Schon so spät? Ab nach Hause.“ Sie wandten sich ab, rannten stolpernd ihrer Gruppe hinterher, die schon weitergetorkelt war.
Ava drehte die Glaskugel vorsichtig wieder richtig herum hin. Dann setzte sie sich, zupfte die Decke zurecht, die sie gegen die Kälte über ihre Beine gelegt hatte. Nach und nach gingen die Lichter der Buden um sie herum aus. Vom Kettenkarussell tönte ein neues Lied.
Ihr Nachbar erschien vor ihrem Stand. „Willste nicht auch Feierabend machen? Ist doch tot hier.“
„Ich bleibe noch ein bisschen“, antwortete Ava.
Der Nachbar zuckte mit den Schultern und wandte sich um. „Schönen Abend.“
Ava seufzte. Warum blieb sie noch? Zu dieser Stunde würde ihr niemand mehr etwas abkaufen. Sie zog ihre Decke höher. In der Ferne hörte sie, wie sich Leute voneinander verabschieden. Zwei weitere Gestalten torkelten an ihrem Stand vorbei, ohne nach links und rechts zu schauen. Die Musik des Kettenkarussells stoppte mitten im Lied. Seine Lichter gingen aus. Ein weiterer Budenbesitzer kam an ihr vorbei, wünschte ihr einen schönen Feierabend. Nur ihr Stand war nun noch beleuchtet.
Nach weiteren fünfzehn Minuten sah Ava auf die Uhr. Es war Zeit zu gehen. Schwerfällig erhob sie sich. Sie nahm ihre Kasse von der Theke und steckte sie in ihre Tasche. Das Geld darin reichte nicht einmal die Standgebühren zu zahlen.
Sie war gerade dabei, die Waren auf ihrer Auslage aufzuräumen, um ihre Bude abschließen zu können, als die Musik des Kettenkarussells wieder zu spielen begann. Ava sah auf. Das Karussell drehte sich. Ein technischer Fehler? War außer ihr noch jemand da? Wer würde sich darum kümmern? Unschlüssig beobachtete sie das Kettenkarussell.
Es drehte sich einmal, langsam. Ein zweites Mal schneller. Nahm Fahrt auf. Ein drittes Mal. So schnell, dass Ava sich duckte. Was war, wenn einer der Sitze abfiel und in die Buden geschleudert wurde?
Waren da Personen in den Sitzen? Das Kettenkarussell war eben noch leer. Nun hätte Ava schwören können, dass dort vermummte Gestalten saßen. Sie konnte sie in der Dunkelheit nicht genau ausmachen. Ava lehnte sich etwas vor, blickte unter ihren Perlenketten hindurch und kniff die Augen zusammen.
Plötzlich gingen die Lichter des Kettenkarussells an. „Willkommen!“, rief eine Stimme über den ausgestorbenen Platz. Als würde jemand in ein Megaphon brüllen. Ava zuckte zusammen. „Willkommen! Hallo! Guten Abend. Gute Nacht! Willkommen, ehrenwerte Gäste. Fühlt euch wie zuhause. Liebe Leute, willkommen. Willkommen auf dem Nachtmarkt!“
Ava sah sich um. Welcher Nachtmarkt? Bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, erbebte der Boden ihres Standes unter ihr. Sie hielt sich an der Theke fest. Es bebte ein weiteres Mal.
„Willkommen!“, brüllte die Stimme ein weiteres Mal. Eine Welle an vermummten Gestalten strömte in die Gassen zwischen den Buden. Stimmengewirr, lautes Gelächter. Eine der Gestalten machte kurz an ihrem Stand halt. Ava blickte in das Gesicht der Person vor ihr, schrak zurück. Eine grinsende Fratze sah ihr entgegen. Mit zwei Reihen spitzer Zähne. Ava presste sich an die Rückwand ihres Standes. Ihre zitternden Arme umschlagen ihre Geldkasse. Die Erde bebte ein weiteres Mal. Die Gestalt vor ihr sah sich schnell um, lief dann weiter.
„Guten Abend und willkommen auf dem wundervollen Nachtmarkt!“
Mit pochendem Herzen blickte Ava die Gasse entlang und erstarrte. Inmitten der hineindrängelnden Menge ging ein riesiges Wesen. Haushoch. Mit grauer Haut überzogen von Warzen. Gelbe Augen in einem viel zu kleinen Kopf. Es bahnte sich den Weg durch die Masse. Bei jedem Schritt bebte die Erde. Die vermummten Gestalten um das Wesen herum wichen ihm aus. Es schliff eine Keule hinter sich her, die größer war als Avas Bude.
Ava wachte aus ihrer Starre auf und warf sich zu Boden. Sie rollte sich so gut es ging unter die Theke ihres Standes. Durch ihre Perlenverzierung hindurch konnte sie sehen wie der Riese sich suchend umblickte. Der bebende Boden unter ihr zeigte, dass er sich weiter bewegte. Zuerst sah sie zwei mächtige Beine – wie Baumstümpfe. Dann schliff die Keule an ihrer Bude vorbei. Ava hielt die Luft an.
„Willkommen auf dem Nachtmarkt! Die Herren, die Damen, die Personen. Einen schönen Abend haben Sie sich ausgesucht! Elfen, Hexen, Kobolde, Magier, Riesen und Feen, Zwerge und natürlich Trolle. Fühlt euch wie Zuhause. Jeder ist willkommen!“
Ava hatte zu lange die Luft angehalten. Sie hustete, atmete flach aus und ein. Sie klammerte sich immer noch an ihre Tasche mit der Geldkasse.
„Hallo?“ Eine fragende Stimme über ihr. „Hallo, ist hier jemand?“
Ava blickte auf. Sie konnte einen Schopf blaue Haare vor ihrer Bude ausmachen. Ein Gesicht erschien zwischen den Perlen, als sich die Person über die Theke vorlehnte, um in den Stand zu sehen.
„Da sind Sie ja. Hallo.“ Es war das Mädchen von vorhin. „Ich hatte gehofft, sie blieben hier. Ich suche schon Ewigkeiten nach einer Kristallkugel, die was taugt.“ Das Mädchen runzelte die Stirn. „Alles in Ordnung bei Ihnen?“
Ava zitterte. Antwortete nicht.
„Willkommen auf dem Nachtmarkt!“, brüllte es ein weiteres Mal.
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