Eine externe Geschichte über den Antagonisten aus meinem Roman.

Eine externe Geschichte über den Antagonisten aus meinem Roman.

28. April 2019 0 Von Nessa Hellen

 

Wieder zurück zur Normalität“ hatte als Titel der Tageszeitung nur im entferntesten Sinn mit ihm zu tun. Der Vulkanausbruch in Mexiko, bei dem tausende Menschen evakuiert wurden und ihre Häuser verloren hatten war eine eher unwichtige Nebensache. Wörter wie „Ascheregen“ und „heftige Erdbeben“ lösten seine ganz eigene Verzweiflung aus. Vielleicht war es auch ein wenig Stolz und Erleichterung, dass das Theater der letzten Wochen vorbei war. Er war sich die ganze Zeit über sicher gewesen, dass es keine wirklichen Beweise dafür gegeben hatte, was man ihm vor warf. Das Nachbeben folgte jedoch schlagartig. Das wollte er erst nicht glauben, doch je mehr er sich wehrte, desto aufdringlicher wurde es.
Beim umblättern bemerkte er, dass die rechte Hand erst leicht und dann zunehmend stärker zitterte. Geballte Faust. Lockerung. Doch das Weiterlesen gelang nicht.
Er hätte sich sowieso nicht weiter auf den Artikel konzentrieren können. Das Nomen „Normalität“ saugte seine Aufmerksamkeit wie ein Stück trockenes Brot und er schluckte es am ganzen Stück mit seinem bereits kalten Kaffee.
Trotz der langsam ansteigenden Erregung nahm er sich den Schlüsselbund von der Tischplatte und ließ ihn in seine Hosentasche fallen. Er zerknüllte die Zeitung von letzter Woche und warf sie in den Papierabfall unter der Spüle. Dabei fiel ihm auf, dass der Briefkasten seit geraumer Zeit schon keine Aufmerksamkeit mehr von ihm bekommen hatte.
Draußen hatte es seit heute morgen geregnet und vom Boden dampfte die Feuchtigkeit. Er ging mit hoch gezogenen Schultern den nassen Kiesweg entlang durch die Gartentür und machte sie hinter sich zu. Dann sah er sich nach allen Seiten um. Im Unterholz knackte es und er konnte nicht genau ausmachen woher das Geräusch kam. Die nassen Baumstämme standen wie schwarze Kerzen um das Haus herum und am grauen Himmel rauschte eine Schar quakender Wildenten über die üppigen, grünen Baumwipfel. Der Briefkasten war nicht direkt vor seinem Haus angebracht. Das Waldstück bis dahin war sein Privatgrund, den keiner betreten durfte. Ein paar Baumstämme konnten niemanden aufhalten, doch im Unscheinbaren war das Beste Versteck. Das hatten sich seine Gedanken so zurecht gemeißelt, vielmehr noch, dass der Wald ihn auf irgendeine seltsame Art und Weise beschützen würde.
Der Weg verlief ein wenig abseits des Hauses. Er atmete tief ein und ging über den kleinen Hügel der ihn abgrenzte. Das Haus war von dort aus nicht zu übersehen. Ein paar Zypressen, die vor dem Gartenzaun standen und ein Stück über den Hügel ragten, verdeutlichten den Unterschied zum restlichen Laubwald. Das wurde ihm jedes Mal bewusst, wenn er raus musste. Immer wieder fiel ihm ein, er müsste diese verdammten Dinger endlich absägen. Doch das würde durch den Lärm Aufmerksamkeit auf ihn lenken, noch mehr, als sie es sowieso schon taten. Als er den Waldweg betrat wurde ihm heiß und sein T-shirt saugte unter den Achseln Flüssigkeit auf.
Die Laubbäume bildeten eine Allee und die prächtigen Kronen schlossen sich weit über seinem Kopf von denen einzelne Regentropfen fielen. Nach fünfhundert Metern hatte er das Ende vom Waldweg erreicht. An der rechten Seite war der Briefkasten an einem Baumstamm befestigt. Ein grüner VW preschte heran und spritzte Regenwasser über den graublauen Asphalt, fuhr zügig weiter und verschwand in der nächsten Kurve. Ohne länger zu zögern hob er die Verriegelung an der Seite. Der Briefkasten klappte auf.
Er zog einen Stapel Tageszeitungen heraus, war froh keine weitere Post bekommen zu haben. Die letzte war nicht besonders erfreulich gewesen. Doch die Dinge hatten sich zu seinen Gunsten geglätttet, so wie das meistens der Fall war. Er packte sich den Stapel Zeitungen unter seinen Arm und machte sich wieder auf den Rückweg. Seine Schritte wurden mit jedem Meter schneller und er war froh, als er die Haustür erleichtert hinter sich schließen konnte. Als er den Stapel auf der Kommode im Flur gelassen hatte, späte er durch den Spion an der Tür. Der Wald wirkte durch die Verzerrung wie ein endloser Trichter der ins Nichts führte. Er stützte sich vor Anstrengung mit einer Hand an der Türe ab und presste die Stirn gegen das Holz. Dann löste er die Hand und blieb ein paar Sekunden mit dem Rücken an der Haustür gelehnt. Das Pochen hinter seinen Schläfen wurde wieder stärker, der Schwindel nahm extrem zu. Trotzdem alles gut gegangen war oder gerade deswegen, fühlte er sich verfolgt. Das Verlangen dem inneren Druck nachzugeben war der einzig klare Gedanke der sich in sein Bewusstsein drängte. Es war wieder an der Zeit etwas dagegen zu tun.
Dieser Gedanke begleitete ihn schon fast täglich ins Bad zu dem Spiegelschrank über dem Waschbecken. Ohne sich darin anzusehen öffnete er ihn und holte eine rechteckige Packung aus der linken Ecke. Dort wo sie immer lag. Dabei machte er stets die gleiche Handbewegung. Er würde die Tablettenverpackung blind oder im Schlaf finden.Da war er sich sicher, als er seine tägliche Dosis durch die silberne Alufassung drückte und die weiße Pille mit einem Schluck Wasser aus dem Hahn hinunter spülte.
Ihm war immer noch übel und er trank ein paar Schlücke hinterher, schloss den Spiegelschrank. Seine Augen glänzten in der Dunkelheit des fensterlosen und blau gekachelten Badezimmers wie zwei dunkle Steine. Nur durch die offene Türe drang ein Spalt Tageslicht und teilte sein Gesicht in eine Schattenlandschaft aus Blau und Dunkelheit.
Im Flur nahm er den Stapel Zeitungen wieder an sich. Zwar hatte er überhaupt keine Nerven dafür, aber er wusste auch nicht wie er sich sonst die Zeit vertreiben sollte. Im Haus hatte er in den zwei Jahren die er schon hier wohnte fast alles repariert. Gestern im Garten das Gemüsebeet umgegraben und den Magnolienbaum eingepflanzt, den er vor ein paar Wochen gekauft hatte. Den Tag davor hatte er die Rosenbeete gegossen und gestutzt. Dr. Bensen hatte ihm gesagt, dass Gartenarbeit eine reinigende Beschäftigung wäre. Eine Belohnung für die Überwindung eine Aussage vor Gericht gemacht zu haben. Trotz der Gefahr und aller Drohungen die gegen ihn ausgesprochen wurden. Bensen hatte sie die falschen Kreise genannt. Und dass es durch seinen Mut sich gegen die Jäger zu stellen an der Zeit wäre gleichzeitig das Innere zu bereinigen. Über seine wieder aufgebrochene Erregung durch die andere Verhandlung bei der er selbst angeklagt wurde, hatte er mit Bensen noch nicht gesprochen.
Heute wollte er die Zeitungen lesen und aussortieren. Er brachte sie in die Küche und legte sie auf dem Tisch ab, schaltete das Radio ein und holte sich eine Kaffeetasse aus dem Schrank über der Spüle. Er stellte sie unter den Vollautomaten und drückte seine tägliche Portion. Während die schwarze Flüssigkeit unter lauten Gedröhne in die Tasse plätscherte, nahm er Milch aus dem Kühlschrank. Danach holte er seine halb volle Tasse ab, goss Milch hinzu und stellte sie auf dem Küchentisch ab. Er setzte sich auf den gleichen Stuhl, den er vorhin verlassen hatte. Ein tiefer Seufzer entglitt ihm, denn er kam sich älter vor, als er eigentlich war. Gleichzeitig zog er die erste Zeitung vom Stapel. Dabei bemerkte er dass die Pille bereits zu wirken begann. Das Zittern war schwächer geworden, die Schweißperlen auf seiner Stirn wurden kalt. Er wischte sie mit dem Handrücken weg. Sein Körper kapitulierte, alles war unter Kontrolle. Das was er verlangte und was vor ein paar Minuten noch wie ein wilder Sturm gewesen war, löste sich im Nebel auf. Doch es verschwand nie ganz. Das war die gleiche Illusion wie dieses Haus und dieser Wald. Diese Erkenntnis stieg aus ihm heraus und tippte wie eine andere Person auf seine Schulter: Ich bin immer noch da. Und du kannst gar nichts dagegen tun!
Doch er durchblätterte die ersten Zeitungen. Dabei sah er sich mit schwacher Aufmerksamkeit die Stellenanzeigen an. Es gab nichts, dass ihn wirklich interessierte. Gearbeitet hatte er schon seit Jahren nicht mehr. Seit er krank geschrieben war, schickte ihm das Amt auch keine Vermittlungsvorschläge. In der Fünften fand er Gutscheine für eine Drogeriekette bei denen er fest stellte, dass sie abgelaufen waren. Die Zeitungen waren diesmal zu lange im Briefkasten gelegen. Einige waren durch die Nässe und die Hitze aufgeweicht und wieder getrocknet worden und sahen aus wie die gefälschten Tagebücher Hitlers. Der andere tippte zum wiederholten Male an der Schulter. Doch er ignorierte ihn, in dem er einfach still weiter machte, in dem er hier lebte wie ein Geist. Tief innen drin wusste er nicht, wie lange er dem Druck noch stand halten konnte. Am liebsten würde er einfach nachgeben. Ob der Wunsch nach einem normalen Leben durch die Tablette ausgelöst worden war, oder ob er ihm eingeredet wurde – diese zwei Möglichkeiten gingen ihm seit langen wieder durch den Kopf. Doch was hieß ein normales Leben? Für die Menschen die ihn wegen seiner Neigung verachteten. Er wusste es nicht.
Er legte die sechste Zeitung weg, spülte die unbefriedigende Antwort mit einem Schluck Kaffee davon und nahm sich die siebte. Endlich hatte er die aktuelle in der Hand und schlug sie auf. Auf Seite Zwei blieb ihm fast das Herz stehen. Plötzlich war er hellwach, als hätte ihm jemand ein nasses Tuch um die Ohren geschlagen. In dieser lag ein Foto. Es zeigte ihn selbst in seinem Auto auf dem Weg in die Stadt. Er hielt einen Moment die Luft an. Sein Puls kam hämmernd an seine Schläfen. Mit gedämpfter Panik stand er auf und sah sich um. Erst aus dem Fenster, dann aus dem Türspion. Nur der Wald und die Augustsonne, die sich wie Quecksilber durch das Grau brach. Er drehte das Radio ab und lauschte in die Stille. Nichts. Außer sein Herz, das wie ein Hammer von innen gegen den Brustkorb klopfte. Als wäre das Foto eine giftige Spinne nahm er es von der Zeitung. Ungläubig starrte er das Motiv an. Was zur…? Da war er selbst. In seinem roten Peugeot mit dem Kratzer an der Fahrertüre. Das war die selbe Straße die er jeden Mittwoch benutzte, wenn er in die Stadt musste, um zu Dr. Bensen zu fahren. So sehr er sich bemühte, er fand keine Zweifel daran. Das war er und jemand hatte ihn fotografiert. Reflexartig drehte er das Foto um. Und dann musste er sich festhalten, um nicht den Halt zu verlieren.
Das Foto landete wieder in der Zeitung und er klappte sie zu, legte sie auf den Schuhschrank im Flur. Die Gedanken rasten ohne das er sich bemühen musste. Um noch einmal sicher zu gehen schlug er die Zeitung zum wiederholten Male auf. Vor Angst schossen Tränen aus seinen Lidern. Er täuschte sich nicht und krallte seine Finger in das Zeitungspapier.
Scheiße!“
Mit einer großzügigen Armbewegung flog das Telefon von der Ablage. Notizzettel flatterten umher und einige Kugelschreiber rollten über den Holzboden.
Bleib ruhig. Alles wird gut.“ Ein Schultertippen, ein kurzes: Vielleicht aber auch nicht.
Sei still!“, brüllte er und sank zusammen, blieb auf dem Boden sitzen, die Beine angezogen und den Kopf auf den Knien. Das Telefon! Er löste sich aus der Fötushaltung und hoffte inständig das es nicht kaputt war, holte es vom Boden, tippte Bensens Nummer und war erleichtert, als er das Freizeichen hörte. Als der Anrufbeantworter ertönte kam die Verzweiflung, der rote Hörer auf der Tatsatur und er legte es neben seine Schuhe.
Das er noch am Leben war, tröstete ihn nicht viel. Er wusste, dass dies alles oder nichts bedeuten könnte. Am Leben zu sein war keine Garantie dafür dass alles in Ordnung war.
Ein Klingeln riss ihn aus seiner Panik. Vor Aufregung sah er nicht auf das Display.
Ja! Dr. Bensen!?“
Herr Straub?“
Es war eine weibliche Stimme. Er zögerte. „…ja?“
Marlene Dieter am Appart. Von ihrer Krankenkasse. Ich rufe Sie an, weil unser Computer abgestürzt ist und einige Daten verloren gegangen sind. Ihr Geburtsdatum und alles weitere wie die Versicherungsnummer ist nicht verloren gegangen. Es handelt sich nur um ihre Anschrift. Ist das noch ihr aktuelle Adresse? An der Havel 136 in 1408 Berlin?“
Er bohrte seinen Handballen gegen die Stirn. Die Stimme klang sehr jung. Zu jung für eine Angestellte bei einer Versicherung. Seine Gedanken überschlugen sich. Hatte der Anruf etwas mit dem Foto zu tun? Mit den Jägern? Unwahrscheinlich. Jedoch nicht unmöglich. Da das Foto in seinem Briefkasten war, kannten sie seine Adresse bereits. Er wusste nicht was er tun sollte.
Ja.“
Dankeschön. Dann rufe ich noch in einer anderen Angelegenheit an. Werden Sie in den nächsten Wochen in den Sommerurlaub vereisen, Herr Straub?“
Wieso?“
Nun, wissen Sie, wir haben einen neuen Auslandversicherungsschutz…“
Nein Danke. Ich vereise nicht.“
Sind Sie sicher?“
Ja! Ich bin sicher!Was soll die Frage?“
Dankeschön. Das war es auch schon.“
Was …?“
Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen Herr Straub!“
Er legte auf, hielt das Telefon immer noch fest in beiden Händen, fühlte sich wie aus sich selbst heraus gerissen. Die Aufregung kam zurück. Die letzte Frage machte ihm jetzt Panik. Schnell! Bevor Dr. Bensen nicht mehr zu erreichen war. Ausserdem musste er sofort aus diesem Haus. Weg aus diesem Wald!
Im Notfall durfte er sofort zu Bensen kommen und sogar übernachten. Nur das Nötigste landete in seiner Reisetasche. Als er die Haustüre von aussen zu gesperrt hatte, blieb er unschlüssig stehen. Irgendwo raschelte es im Blätterwerk. Das Licht im Wald war seltsam hell und sein Kopf schmerzte. Die Angst blieb. Auch wenn der Peugeot direkt in der Einfahrt und nur ein paar Fußschritte weit entfernt war.