Musik
Eine kurze Geschichte über eine Entscheidung.
Und auf einmal war die Musik weg.
Ich kramte nach meinem Handy, während ich mit einer Hand weiter meinen Fahrradlenker balancierte. Versuchte zur gleichen Zeit die Straße im Blick zu behalten und Spotify auf meinem zersprungenen Display zu finden.
Die Sprechblase mit dem weißen Hörer am oberen Bildschirmrand ignorierte ich.
Das Display verschwamm vor meinen Augen. Ich hob es etwas weiter von mir weg, dann wieder näher her. Ich blinzelte, tappte etwa dort auf den Bildschirm wo ich eben noch den Play Button gesehen hatte, bevor dieser in meiner Sicht etwas nach links gewandert war.
Mit dem Vorderreifen traf ich ein Schlagloch. Beinahe verlor ich die Kontrolle über mein Rad.
„Scheiße.“
Das Handy fiel mir aus der Hand, riss die Kopfhörer aus meinen Ohren. Ein leises Klank als es auf Asphalt traf. Ich stoppte meine Fahrt mit den Fußsohlen. Die Bremsen gingen schon eine Weile nicht mehr.
Ein paar Schritte zurück, noch auf dem Sattel sitzend. Ich suchte den Boden ab. Das Licht einer Straßenlaterne spiegelte sich auf meinem Handy, das gefährlich nahe neben einer Pfütze lag. Ich atmete erleichtert aus.
Bückte mich. Mein Gleichgewichtssinn verabschiedete sich und ich kam ins Straucheln.
„Shit…“
Ich landete auf der Straße. Mein rechtes Bein unter dem Fahrrad eingeklemmt. Mein Rücken in der Pfütze. Mein Arsch auf meinem Handy. „Ach, komm schon!“
Ich schob mein Rad weg. Zog das Handy unter meinem Körper hervor. Keuchte. Die Straßenlaterne über mir blendete mich. Meine viel zu dünne Jacke saugte sich mit Pfützenwasser voll. Ich bewegte mich nicht. Legte mein Handy auf meiner Brust ab.
Die Welt um mich herum drehte sich. Oder drehte ich mich?
Meine Finger wanderten zurück zu meinem Handy. Ich rückte es in mein Sichtfeld. Tippte den Bildschirm an, dass er aufleuchtete.
Die weiße Sprechblase mit dem Hörer in der Mitte war das Einzige in meiner Welt, das sich im Moment nicht drehte. Mein Finger schwebte darüber.
Das Geräusch eines Autos.
Es riss mich aus meiner Meditation am Straßenrand. Ich hob meinen Kopf an. Beobachtete den Honda langsamer werden und neben mir Halt machen.
„Alles in Ordnung?“ Der Fahrer hatte das Fenster heruntergefahren.
„Jap. Ja. Alles in Ordnung!“
Zur Demonstration richtete ich mich etwas mehr auf.
„Pass auf dich auf, Junge!“ Er fuhr weiter.
Die Abgaswolke landete in meinem Gesicht. Ich atmete sie tief ein. Ich mochte den Geruch. Langsam stieß ich die Luft wieder aus. Eine Rauchwolke bildete sich vor meinem Gesicht. Wie früher als Kind. Cool.
Ich rappelte mich auf. Steckte mein Handy in die Tasche. Die Kopfhöher zurück in meine Ohren. Und stieg wieder auf mein Fahrrad.
Molly saß im Schneidersitz mitten im Flur unserer Wohnung. Vor einem Typen, der vielleicht schlafend, vielleicht ohnmächtig über einem großen Haufen Schuhe und Stiefel ausgestreckt lag.
Laute Musik und Gelächter kam aus der Küche. Die Nachbarn würden sich wieder beschweren. Durch die Glastür sah man das bunte Funkeln unserer gestohlenen Diskokugel.
Mit dem Fuß blieb ich an der Türschwelle hängen und stolperte in den Flur. Molly drehte ihren Kopf langsam zu mir.
„Wo bist du gewesen?“
„Arbeit.“
„Wie viel Uhr ist es denn?“
Ich schmiss meine Schlüssel in Richtung der Schale auf der Kommode. Verfehlte sie. Die Schlüssel schlitterten über das Holz. Fielen in den Spalt zwischen Kommode und Wand. Ich beobachtete sie, seufzte. Beschloss, mich morgen darum zu kümmern.
„Meinst du, wir sollten den Typ auf die Seite drehen? Nicht dass er erstickt…“
Ich ging hinüber, musterte den Kerl. Noch nie gesehen.
„Vielleicht besser“, stimmte ich ihr zu.
Wir packten beide an und drehten ihn auf die Seite. Sein Kopf fiel mit der Nase voran in einen Turnschuh.
„Wäh!“ Molly kicherte.
Ich justierte den Schuh, dass der Kerl wieder atmen konnte. Brauchte zwei Anläufe. Er brummte protestierend.
„Wie geht es Anna?“, fragte Molly.
Ich traute mich nicht, in ihre Augen zu sehen. „Keine Ahnung.“
Sie rappelte sich auf. „Du bist ein Arsch!“ Sie stakste Richtung Küche.
„Ich bin kein Arsch!“, rief ich ihr hinterher.
Ich war kein Arsch. Ich war ein Schisser.
Molly öffnete die Tür zur Küche. Musik schwappte heraus. Wurde wieder leiser, als die Tür hinter ihr zufiel.
Ich zog meine Schuhe aus. Stolperte fast über meinen neuen Freund vom Boden. „Sorry…“, murmelte ich.
Wieder ein Schwall Musik. Ich blickte auf.
„Warst du bei Anna?“
Tom stand am Türrahmen gelehnt, Arme verschränkt. Grüne Lichter aus der Küche tanzten über seinen kahlen Kopf. Die Farbe der Lichtpunkte änderte sich zu orange.
„Nein, arbeiten.“
„Seit wann arbeitest du bis halb elf?“
„Seit heute.“
Er nickte. „Komm rein. Hol dir ein Bier.“ Tom öffnete die Tür zur Küche.
Lärm brüllte uns entgegen.
„Falk ist hier!“ „Hey, Mann!“ „Was geht mit dem Typen auf dem Boden?“ „Falk, komm her!“
Ich folgte Tom in das Chaos. Unsere Küche war vollgestopft mit Menschen. Mit Gesichtern. Manche davon kannte ich. Manche nicht. Irgendjemand klopfte mir auf die Schulter. Ich sah mich irritiert um.
Es roch nach zu vielen Leuten. Verbrannten Nachos. Knoblauch. Und verschüttetem Bier. Tom drückte mir eine Flasche in die Hand. Wir stießen an.
Die Musik war so laut, dass man sich kaum verständigen konnte. Die Gesichter jubelten, schrien, tanzten. Schliefen am Tisch.
„Hast du dein Handy verloren?“, rief mir Tom zu.
„Was? Nein…“
„Anna hat mir geschrieben. Dass ich dir sagen soll, du sollst auf dein Handy schauen.“
Mist.
„Ach doch, ich hab es verloren.“ Ich nahm einen schnellen Schluck. Warum hatte ich das gerade gesagt? Das war doch blöd. Das Bier war lauwarm.
„Idiot. Du hast es in deiner Hosentasche. Warum liest du Annas Nachricht nicht?“
Tom war näher gekommen. Ich wich einen Schritt zurück. Ein neues Lied begann zu spielen. Der Bass lies mein Herz flimmern.
Die Gesichter beobachteten uns.
„Gib mal her, Falk!“
Tom griff nach meiner Hosentasche. Ich machte noch einen Schritt rückwärts. Stieß gegen unser Küchenregal. Tom verlor die Geduld. Er stellte seine Bierflasche beiseite, schubste mich.
Wir verloren das Gleichgewicht, fielen zu Boden. Ich verschüttete mein Bier über uns. Wir rissen ein paar Teller aus dem Regal.
„Was macht ihr?“ Molly übertönte die Musik.
Ich rollte mich auf den Bauch, beide Hände über meiner linken Hosentasche, dass Tom nicht an mein Handy kam. Dabei pflanzte ich mein Gesicht in die Scherben unter mir.
Ein kurzes Stechen. Dann wurde es warm auf meiner Wange. Kurz unterm Auge.
„Scheiße, Alter…“ Tom ließ mich los.
Jemand hatte mich aufgerichtet und gegen die Wand gelehnt. Jemand anderes presste einen Ballen Verbandsmaterial gegen mein Gesicht. Vor mir saß Molly. „Falk, du Idiot.“
Sie justierte das Verbandszeug. Ich zog die Luft ein.
Tom schob sich in mein Blickfeld. „Ließ endlich Annas Nachricht, Idiot“, brummte er.
Jemand hatte die Musik ausgeschaltet.
Das Krankenhaus roch schlimmer, als ich es in Erinnerung hatte. Vielleicht irritierte mich der Geruch nach Suppe, Desinfektion und makellosen Oberflächen auch mehr als sonst. Ich schloss die Augen, um zu vermeiden, dass sich die Welt um mich herum zu sehr drehte. In der Morgensonne strahlten die weißen Bodenfließen. Blendeten mich.
Zimmer 358.
Ich steuerte halbwegs gerade auf die Wegweiser zu.
Die Dame hinter dem Empfangsschalter beobachtete mich. Sie sah aus wie ein freundlicher Pudel. Graue Haare in einer kurzen Dauerwelle.
„Kann ich Ihnen helfen?“
Ich wandte mich zu ihr um. Sie musterte mich über die Gläser ihrer schmalen Brille.
„Wollen Sie zur Notaufnahme?“
„Was?“, ich ging einen Schritt auf sie zu.
Ich blickte sie verwirrt an.
Sie blickte mich verwirrt an.
„Ach so… Nein.“ Ich tippte auf meinen frischen Schnitt auf der Wange. „Nein, nein. Ich suche die Babys.“
Ihre Augenbrauen wanderten nach oben.
„Ich… Da wo die Babys sind. Die Station.“
Vielleicht sollte ich es einfach lassen.
„Die Geburtenstation?“, half sie mir.
„Genau.“ Kurze Pause „Zimmer 358.“ Noch leiser hätte ich es nicht sagen können. Wie ein Geheimnis flüsterte ich es ihr über den Schalter.
Sie sah mich zweifelnd an. Wollte noch etwas sagen.
„Schönen Tag noch!“, rief ich. Und wandte mich ab. Schnell lief ich durch die Empfangshalle, drehte mich nicht mehr zur Pudeldame um.
Ich hätte Blumen mitbringen sollen. Oder ein Geschenk?
Meine Hand ruhte auf der kalten Türklinke. Mir wurde bewusst, dass ich aussehen musste wie ein Penner. Blut, Bier, Pfützenwasser, Dreck. Daran durfte sich der Kleine dann mal gewöhnen.
Von drinnen hörte ich ein Summen. Annas leise Stimme.
Ich ließ die Hand noch einen Moment länger auf der kühlen Türklinke.
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