Nachtflug

Nachtflug

8. August 2021 0 Von Daniel Bühler

Bushaltestellen haben mich schon immer etwas depressiv gemacht! Bushaltestellen erzählen von Einsamkeit, sie erzählen von Tristesse und Langeweile, zuallererst jedoch symbolisieren sie unerfülltes Warten und Sehnsucht. Sehnsucht nach dem Nachtbus nach Hause oder dem Bus nach irgendwohin. Eine Bushaltestelle ist aber auch ein Versprechen. Ein Versprechen von Geborgenheit oder Abenteuer, einer neuen Welt oder einer alten Heimat. Die Wege, die man beschreiten wird, glaubt man zu kennen, denn sie sind tausendmal begangen worden, doch jedes Mal ist es eine neue Reise.

Ich aber sah die Rücklichter eines Nachtbusses in der Dunkelheit entschwinden, mit dem das süßeste Mädchen davonfuhr, das ich seit langem getroffen hatte. Seit sie vor zwei Wochen einfach so ihren Kopf auf meine Schulter gelegt hatte, konnte ich nicht aufhören an sie zu denken. Auch das war in einem Nachtbus gewesen.

II

Heute hatten wir den Funkturm erklommen und die endlosen Lichter der Stadt von oben bewundert. Anschließend waren wir in ein Kreuzberger Café gegangen. Es war ein Frühlingsabend, perfekt, um draußen Wein und Bier zu trinken.

„Wir sind doch Freunde, oder?“, hatte Sarah mich gefragt. Nach einem unbeholfenen Annäherungsversuch meinerseits war sie diejenige gewesen, die das peinlich berührte Schweigen durchbrochen hatte. Ich war noch nie gut in solchen Sachen. Wenn es darum geht, einem Mädel zu zeigen, was ich für sie empfinde, wünsche ich mir eine Bedienungsanleitung, einen Souffleur, wenigstens Dr. Sommer oder eine göttliche Eingebung. Die Angst vor einer Blamage ist immer dabei. Aber ich konnte nicht anders, ich musste es tun, denn die Erinnerung an das Gefühl, das ich in jenem Nachtbus hatte war stärker.

Es ging schief. „Wir sind doch Freunde, oder?“ Mist, dachte ich, vielleicht hätte ich doch zu den Maikrawallen fahren sollen, während ich versuchte, den Nachklang des Satzes zu verarbeiten. Was kann ich schon sagen? Nein schrie eine Stimme in meinem Kopf; ich will nicht der sein, mit dem man –  nur – so toll reden kann, denn das ist die Höchststrafe. Denn ich trinke Wasser oder ich trinke Wein, aber wie kann ich behaupten, ich wollte so gerne bei Sarah sein, ihr aber die Freundschaft verweigern? Ich finde nicht immer die richtigen Worte, aber der Gedanke, ich, bekäme kein Lachen mehr von ihr und auch keine wortgewandten und gewitzten Paraden auf meine zahlreichen flapsigen Bemerkungen, dieser Gedanke tut weh!

III

Ich konnte ihr keine Antwort geben, aber wenn ihr sie an meiner Stelle gesehen und erlebt hättet, würdet ihr mich verstehen:

Denn Sarah hat ein weites Herz. Und bei Platons Barte, ich schwöre: wenn man ganz genau hinschaut, dann sieht man es. Wenn sie auf euch zukommt, schwebt sie, sie schwebt ganz knapp über dem Boden. Und wenn sie mich anlächelt, dann schwebe ich ein Stückchen mit. Im übrigen, was will ich mit bösen Mädchen, die können überall sein, aber bitte nicht bei mir. Ich suche eigentlich einen lieben Menschen. Frech und tollpatschig? Umso besser.

Wie gut kennst du sie, fragt ihr vielleicht, doch ich kann nur antworten, ich möchte so gerne mehr von ihr kennen. Sie hat einen Freund und wer bin ich, mich einzumischen? Aber Sarah und ich, wir haben uns getroffen und ich glaube, wir könnten es sein. Ich möchte nicht, dass es meine Schuld ist, dass sie traurig und verwirrt ist, aber ich wäre so gern der Auslöser, wenn sie glücklich ist.

IV

Über all das redeten wir in jenem Café und anschließend auf dem Weg zur U-Bahn. Wir versuchten unsere Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen. Ich wünschte mir, wir wären in Sibirien oder in der Wüste, im ewigen Schnee oder mitten auf dem Ozean. Hauptsache der nächste Bahnhof wäre weit, weit weg oder es gäbe ein Erdbeben, eine Alien-Invasion, was weiß ich. Aber die U-Bahn stand schon abfahrbereit am Bahnsteig. Wahrscheinlich war sie das erste Mal überhaupt pünktlich. Doch Sarah ließ sie davonfahren. Einfach so ohne Verabschiedung wolle sie nicht gehen, sagte sie. Wir beschlossen, nach einem Bus zu schauen.

Doch auch der Nachtbus kam sofort und damit endgültig das Ende! Sie schaute mich an, traurig und verletzlich sah sie aus. Wie nahmen uns zum Abschied in den Arm, bevor ich denken konnte wandten wir vorsichtig unsere Gesichter zueinander, ich konnte ihren Atem spüren und da küssten wir uns.

V

Ich fühlte den Abschiedskuss noch auf meinen Lippen. Ohne sich umzusehen, stieg Sarah in den Nachtbus. Der Busfahrer blickte mich müde an. Alles in mir schrie, geh ihr nach! Doch ich war wie versteinert, rührte mich nicht. Mit einem Zischen schlossen sich die Türen und der Bus fuhr ab. Das konnte, das durfte es nicht sein.

In meiner Verzweiflung sah ich über die Straße, während die Rücklichter verschwanden. Vor den York-Kinos standen die Geister aller Helden, die ich jemals bewundert hatte. Aber sie sahen mich nur stumm an, als wollten sie sagen, du bist frei zu tun, was immer du willst. Es roch nach Frühling.

VI

Ich habe das Wort „spontan“ nicht gerade erfunden; jetzt aber sprang ich. Sarah saß in diesem verdammten Bus und der durfte nicht abhauen. Ich winkte, das zweite Taxi hielt an und in Gedanken gelobte ich dem Gott der Taxiinnung ewigwährende Verehrung.

„Fahren sie dem Bus hinterher“, rief ich. „Schnell!“

Der Fahrer warf mir einen verwunderten Blick zu.

„Wenn sie nur wüssten, wie süß sie ist …“

Im Rückspiegel sah ich den Mann lächeln. Darin lag irgendetwas zwischen Wehmut und Entzückung. Dann gab er Stoff.

VII

Wir rasten im Tiefflug durch die Nacht, wechselten mehrfach die Spuren um die anderen Autos hinter uns zu lassen. Als wir knapp vor dem Gegenverkehr wieder auf unserer Seite einscherten, musste ich schlucken und schnell schloss ich den Gurt, den ich vor Aufregung vergessen hatte. „Keine Sorge, genug Platz“, beruhigte mich der Fahrer, als er mein erschrockenes Gesicht sah. Dann hatten wir den Bus. Wir überholten ihn, ich bin sicher, mit mehrfacher Lichtgeschwindigkeit, trotzdem machte ich mich ganz klein in meinem Sitz um nicht zufällig entdeckt zu werden. „Setzen sie mich am Nollendorfplatz ab“, sagte ich zu meinem Fahrer, „dann müsste ich genug Vorsprung haben.“ Könnte sein, dass er tatsächlich mit „Aye, Aye Sir“ geantwortet hat. Nur noch wenige hundert Meter, dann waren wir da.

VIII

Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass diese nächtliche Verfolgungsjagd einem Straßenkater wahrscheinlich das Leben gerettet hat. Der war von einer dieser Großstadttölen in eine Ecke unter den alten Eisenbahnbrücken gedrängt worden. Jetzt machte er sich bereit für den letzten aussichtslosen Kampf mit dem Köter. „Nie mehr die süße getigerte Kleine vom Hinterhaus anmaunzen“, dachte er , als er seine Krallen ausfuhr, um Hasso zu erwarten. Diesem entfuhr ein tiefes Knurren, als er die Hinterläufe zum Sprung anspannte. Da erhob sich ein Brausen und Tosen, ein gelber Blitz mit Taxischild schlitterte mit quietschenden Reifen um die Kurve, das Hinterrad aber streifte dabei eine weggeworfene Bierdose. Der Impuls der Berührung reichte aus, sie wie eine Rakete Richtung Hasso zu feuern. „Auweia!“, rief da der Kater überrascht und zeigte mit seiner Pfote über dessen muskulöse Schulter auf die anfliegende Dose. „Du glaubst doch nicht, dass du mich mit diesem Uralttrick reinlegen kannst“, bellte der und setzte an zum Sprung. Das Letzte, was das Tier wahrnahm, bevor es in eine tiefe Hundeohnmacht fiel, war ein hohes Pfeifen, das sich schnell von links näherte, und eine Bierdose, die sich in den Augen des Katers widerspiegelte.

IX

Von diesen Ereignissen hatte ich keine Ahnung, als ich zwei Minuten vor der Ankunft des Busses an der Haltestelle am Nollendorfplatz stand. Als er kam, rutschte mir mein Herz in die Hose und ich war nahe dran abzubrechen. Was würde sie tun? Wäre sie sauer oder würde sie mich ignorieren? Würde sie mich aus dem Bus zurück auf die Straße werfen lassen, um Hilfe rufend, und alle anwesenden Machos kämen Fäuste schwingend gerannt um ihren Job zu tun? Egal, und wenn es das letzte wäre, was ich tue!

Als ich über die Treppe ins Oberdeck stieg, blickte ich in ihre verdutzten, aber immer noch blauen Augen. „Hi“, begrüßte ich sie, „ich wollte immer schon mal zu einem Taxifahrer sagen, ‚folgen sie diesem Wagen‘.“

Vor allem aber wollte ich Sarah küssen. Er ging in Erfüllung, mein Wunsch; auf dem Nachtflug durch die Straßen und Lichter der Stadt.