Was tun die Figuren in einem Buch, wenn es gerade niemand liest?

Was tun die Figuren in einem Buch, wenn es gerade niemand liest?

15. März 2020 0 Von Daniel Bühler

Ja, was – bei allen Göttern! – tun eigentlich die Figuren in unseren Büchern, wenn sie gerade niemand liest? Vor langer Zeit stellte Katharina Maier diese Frage als Schreibanregung in einer ihrer Schreibwerkstätten.

Ich habe in meinen Archiven eine bislang unentdeckte Aufzeichnung gefunden, die Unfassbares offenbart:

 

Friederike Furtenbacher verdrehte die Augen; wieder einmal hielt ihr Vater, Reinhart Furtenbacher, eine seiner Predigten – wieder einmal ging es um sie. Es war ein sonniger Herbsttag und im großen Salon der Familie Furtenbacher duftete es nach Kaffee; auf dem Tisch waren sieben Gedecke, auf ihnen befanden sich halb aufgegessene Stücke Schwarzwälder Kirschtorte. Friederike, eine dunkelhaarige Frau Anfang 30, saß auf dem Plüschsofa der Familie und seufzte. Marco Werner, der Mann, den sie morgen heiraten sollte, stand an der geöffneten Terrassentür; er hatte seine Ray-Ban-Sonnenbrille über die Stirn geschoben und wischte mit angesäuertem Gesicht die Asche seiner Zigarette von seiner schwarzen Lagerfeld-Weste. Reinhart Furtenbacher marschierte im Salon auf und ab, hatte die linke Hand auf den Rücken gepresst und schien mit der rechten ein Orchester zu dirigieren.

„Gefühl, Friederike, du musst mehr Gefühl hineinlegen! Marco, dieser Lump, hat dich betrogen und du…“

„Bist du vielleicht neidisch auf den Lump?“, sagte Marco und grinste. „Du zweitklassige Kopie eines Nora-Roberts-Charakters.“

Reinhart warf Marco einen missbilligenden Blick zu und schien zu überlegen, ob er auf die Beleidigung reagieren sollte. Dann schüttelte er den Kopf, glättete eine widerspenstige Strähne seines grauen Haars. Er wollte gerade wieder ansetzen, doch Florian Klein, der bislang mit den Händen in den Hosentaschen aus dem Fenster auf den Starnberger See gestarrt hatte, kam ihm zuvor. „Hört ihn euch an, unseren Humphrey Bogart für Arme; so empfindlich?“

„Warum lernst du nicht einfach mal deinen Text?“, sagte Marco mit verächtlichem Blick.

Florian nahm seine Brille ab und putzte mit einem Tuch das rechte Brillenglas, während er antwortete. „Ich kann meinen Text auswendig, seit über zwanzig Jahren sage ich dasselbe.“

„Du stotterst! Und zwar immer an derselben Stelle.“

Florian fixierte Marco und betonte jedes einzelne Wort: „Weil der Autor es so will.“

„Ruhe, meine Lieben, so beruhigt euch doch“, sagte Reinhart. Er hatte seine Hände gefaltet und blickte mit kummervollem Gesicht in die Runde. „ Wir müssen endlich …“

Friederike runzelte die Stirn und ließ ihren Blick einmal an Reinhart herab und wieder herauf gleiten. „Wer hat dich eigentlich zum Chef ernannt?“, sagte sie.

Reinhart schob die Brust nach vorn und wischte einige Fusseln von seinem Jackett. „Der Autor, meine Liebe.“

„Der Autor? Echt jetzt? Der kann doch noch nicht einmal vernünftige Dialoge schreiben.“

Friederike stand auf und wandte sich an Marco, der immer noch an der Terrassentür seine Zigarette rauchte. Sie presste beide Hände an die Brust und versuchte ihre Stimme melodramatisch klingen zu lassen: „Oh Marco, du Schuft! Wie konntest du mir das nur antun? Betrogen hast du mich, mit meiner besten Freundin seit Kindheitstagen Laura. Oh, wie demütigend.“

„Was muss Florian, die dumme Petze, das auch erzählen“, sagte Marco und schmetterte die halb gerauchte Zigarette auf die Terrasse.

„Du bist mir ein schöner Freund“, sagte Florian und schnaubte. „Du hast doch mit Friederike nur was angefangen, weil du wusstest, dass ich auf sie stehe.“

„Meine Lieben!“ Reinhart versuchte nochmals, sich Gehör zu verschaffen. „Das hatten wir doch schon ein dutzendmal.“

Laura Petermann seufzte. Sie hatte den alten Sekretär aus Mahagoni kurzerhand zum Kosmetiktisch umfunktioniert und mit einem Handspiegel den Sitz ihrer Frisur überprüft – sie fand ihre blonden Haare ungeheuer attraktiv. „Wenn Friederike dauernd ihren Text vermasselt, kommen wir nie ans Ende“, sagte sie und begutachtete dabei ihre rot lackierten Fingernägel.

Friederike drehte sich blitzartig um. „Es hat an der Tür geklingelt, du Flittchen. An der Tür! Sonst hätte sie gar nicht aufgehört zu lesen.“

„Flittchen?“ Laura schmunzelte. „Du bist doch nur eifersüchtig, dass er in Wahrheit mich liebt.“

„Jetzt gebt doch endlich Ruhe“, sagte Reinhart und machte eine beschwörende Geste mit seinen Händen, „sonst kommen wir hier nie weiter, ich…“

„Reinhart, ich glaube, Friederike heiratet heute.“ Es war Tante Ellinor, die sich aus den Tiefen ihres Lehnstuhls bemerkbar machte. Sie hatte der bisherigen Unterhaltung mit einem teilnahmslosen Lächeln beigewohnt; daher vermutete Reinhart, dass Ellinor ihr Hörgerät wieder einmal ausgeschaltet hatte. Er beugte sich zu ihr herab:

„Das wissen wir Tante Ellinor, das wissen wir. Möchtest du noch einen Schluck Cognac?“ Reinhart schenkte Tante Ellinor nach, dann wandte er sich wieder an Friederike: „Friederike, wenn sie das Buch wieder aufschlägt, liest sie normalerweise die letzten ein, zwei Absätze nochmal. Wenn du dir also richtig Mühe gibst…“

„Können wir nicht mal tauschen?“ Friederike hatte sich wieder auf das Sofa fallen lassen. „Ich hab‘ keine Lust, jedes Mal dasselbe zu sagen.“

Hannelore Furtenbacher, die immer noch am Kaffeetisch saß und in einer Klatschzeitschrift geblättert hatte, drehte sich zu Friederike um. „Oh, mein armer Spatz. Reinhart, Liebling, warum versuchen wir es nicht einfach mal?“

Reinhart machte ein Gesicht, als hätte seine Frau vorgeschlagen, doch mal eben nackt durch den Garten zu tanzen und satanische Lieder zu singen. Marco stapfte mit empörtem Gesicht zu Reinhart und zeigte auf Florian. „Auf keinen Fall tausche ich mit diesem Loser!“ Dann sah er Florian an und lächelte gehässig: „Glaubst, du hättest ’ne Chance bei Friederike, was? Ich hab mich halbtot gelacht, als sie von deinen letzten Annäherungsversuchen erzählt hat.“

„Ja“, Florians Augen wurden zu Schlitzen, „Friederike erzählt so einiges. Zum Beispiel vom Dorffest. Wer war da neulich so besoffen, dass er danach keinen mehr hoch gekriegt hat.“

Marco fiel der Kiefer herunter; dann schwoll eine Ader an seiner Stirn. „Friederike! Verflucht. Du hast mir versprochen…“

Laura kicherte. Plötzlich schien Reinhart etwas bemerkt zu haben, seine Augen weiteten sich, Aufregung lag in seiner Stimme. „Meine Lieben, ich glaube sie kommt zurück, wir…“

Marco achtete nicht auf ihn, sein Blick war starr auf Friederike gerichtet. „Glaubst du vielleicht, Friederike, dass Laura die einzige war, mit der ich…“

„Hast du mich etwa betrogen?“ Laura schoss aus ihrem Stuhl.

„Aber so hört doch auf! Wir müssen auf unsere Plätze“, sagte Reinhart und faltete die Hände wie im Gebet.

„Du blöder Wichser“, rief Laura und stürmte zu Marco mit dem Blick einer Tigermutter, die ihre Jungen verteidigte.

„Laura! Jetzt bleib mal cool.“ Marco ging ihr mit einer beschwichtigenden Geste entgegen.

„Lass Marco in Ruhe, du Schlampe.“ Friederike sprang vom Sofa auf um Laura abzufangen.

Florian eilte mit ausgestreckten Armen zu Friederike. „Friederike! Aber Friederike, ich liebe dich doch.“

Sie trafen neben dem Kaffeetisch aufeinander. Laura schlug nach Marco, der wich zur Seite aus und Lauras Faust landete auf Florians Nase. Florian schrie vor Schmerz. Dann schoss das Blut aus seiner Nase und seine Brille fiel zu Boden. Jetzt war Friederike da, sie hatte die Zähne gebleckt und riss an Lauras Haaren, die wiederum ihre Fingernägel in Friederikes Gesicht grub. Marco versuchte dazwischen zu gehen, doch die beiden riefen im Chor, „Du Schwein!“ – und Friederikes Hand klatschte in Marcos Gesicht, nur kurz bevor Laura ihren Absatz gegen sein Schienbein drosch. Marco jaulte, wich zurück und stolperte rücklings über ein Tischbein; er ruderte mit den Armen und irgendwie bekam er noch einen Zipfel der Tischdecke zu fassen. Dann krachte es.

„Reinhart! Reinhart, der junge Mann, den Friederike heiratet, der ist gestürzt.“ Tante Ellinors Stimme klang nicht sonderlich besorgt. Sie nahm einen großen Schluck von ihrem Cognac. Reinhart schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

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Die Leserin kam zurück in ihr Wohnzimmer. Frau Meier, ihre Nachbarin hatte nach zwei Eiern und etwas Vanillezucker gefragt. Diese dumme Pute! Konnte die nicht einfach mal genügend einkaufen? So, wo war ihr Buch? Da, es war etwas unter das rote Sofakissen gerutscht, neben dem sie es abgelegt hatte. Sie schlug es auf, nahm das Lesezeichen heraus und schaute, bei welchem Satz sie aufgehört hatte zu lesen. Dann stutzte sie. Ja, um Gottes willen! Wieso stand hier auf einmal, dass mehrere Personen blutige Nasen hatten? Und wieso lag jetzt das gesamte Kaffeeservice samt Tischdecke, Schwarzwälder Kirschtorte und Kaffeekanne zertrümmert auf dem Fußboden? Sie musste ein paar Absätze überlesen haben. Sehr merkwürdig! Und sie blätterte mehrere Seiten zurück.