Kurzgeschichte: Allein durch die Nacht

Kurzgeschichte: Allein durch die Nacht

13. Juni 2022 0 Von Christine M. Brella

Mathilda schloss die Augen und sog den warmen schweren Nachtgerucht der Stadt ein. Feuchter Staub, fauliger Unrat, Rauch und dazwischen ein deftiger Essensduft. Die Luft war so schwer, dass sie fast das Gefühl hatte zu schwimmen. Der Boden schankte unter ihren Stiefeln. Ihr Kopf drehte sich angenehm und sie konzentrierte sich auf die Geräusche in der leeren Gasse. Ein leises Minauen; dann ein Fauchen. Scheppernd fiel ein Gegenstand aus Blech auf das Pflaster. Inrgendwo wurde ein Fenster zugeknallt. In einem Haus in der Nähe schimpfte eine Frau. Sonst war alles still.

Plötzlich trat Mathilda ins Leere, riss die Augen auf, fand im letzten Moment ihr Gleichgewicht wieder.

„Ups!“, entfuhr es ihr und im nächsten Moment musste sie über sich selbst schmunzeln.

Ihr Blick fiel auf die Flasche in ihrer linken Hand, sie grinste noch breiter und hob sie an die Lippen. Lauwarmer Fusel lief ihre Kehle hinab und verursachte ein angenehmes Brennen. Zwar hatte die Kneipe zugemacht und sie war auf dem Weg zurück in ihren trostlosen Unterschlupf, doch sie war fest entschlossen, den Abend so weit in die Morgenstunden zu dehnen wie irgendwie möglich. Sie hatte diese elende Stadt mitsamt ihren aufdringlichen Bewohnern und die tatenlose Warterei genauso satt wie die lauwarmen, specklosen Bohnen aus der Dose jeden Morgen. Seit Wochen hing sie hier fest – und immernoch keine Botschaft von ihrem Vater. Wann ging es endlich los?

Mathilda sehnte sich nach der unendlichen Prärie; das freie Gefühl am Pferderücken; die Aufregung wenn hinter einer Biegung die Postkutsche auftauchte. Doch bis es soweit war, hieß es zu warten und zu vergessen. Sie schloss wieder ihre Augen, nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und ließ sich treiben.

(Mehr von Mathilda in „Lass Dich nicht hängen“ aus Dazwischengeschichten – Unser Gemeinschaftsprojekt :-))