Lilie im Schnee

Lilie im Schnee

24. Februar 2019 0 Von Nessa Hellen
Lilie im Schnee ist eine kurze Geschichte über Freundschaft. Sie rumorte im Dezember 2016 in mir. Die Lilie ist all denen gewidmet, die für einander da sind, die nicht müde werden.

 

Lilli hängt kopfüber von einem Ast und streckt ihre Finger nach meinen. Hinter ihrem Gesicht schaue ich in den grauen Himmel aus dem dicke Flocken fallen. Sie versucht sie mit offenem Mund zu fangen. Weiße Punkte schmelzen auf ihrer blassen Zunge.
Auf Bäume klettern ist eher Lillis, meines eher nicht. Ich mag die Höhe nicht und ich mag es nicht wie sich Bäume anfühlen. Die Rinde ist mir zu rau und jedes mal schürfe ich mir die Hände auf.
Alles nur psychologisch“, sagt sie dazu.
Buchsbaum“, sage ich.
Herr Buchsbaum will immer, dass ich bis an die rote Grenzschnur vom Seil komme, das drei Meter von der Decke in unserer Turnhalle hängt. Wie ich das mache ist ihm egal. Ich mag Herr Buchsbaum nicht. Und er mag es nicht, dass ich die unsportlichste aus der Klasse bin und es nie bis zur roten Grenzschnur schaffe. Er ist wie Tobias, der sich in der Schlange zum Seilklettern immer vordrängelt und jeder lässt ihn, ohne was zu sagen. Manchmal schubst er und ich passe auf, dass ich immer hinter ihm stehe. Lilli ist die einzige, die ihn mit ihren dünnen Fingern zurück schubst. Manchmal sagt sie auch „Ey!“ und schaut ihn mit ihren eisblauen Augen ganz derb an.
Tobias hat sie nicht alle“, sagt Lilli. Und ich stimme ihr zu und versuche doch noch ihr hinterher zu klettern.
Sie merkt das und gibt mir ihre Hand. Ihre Haut ist weich und fühlt sich an, als würde ich einen Beutel aus Samt zusammendrücken in dem kleine Äste sind. Sie ist so durchsichtig wie die Seidentücher, die Lillis Ma immer in der Küche färbt. Sie taucht sie in ein Schälchen mit Stofffarbe, weicht sie ein, lässt sie trocknen und bemalt sie danach mit anderen Stofffarben. Sie malt Muster, Zeichen und Elefanten. Sie klebt kleine Strasssteinchen drauf und verkauft die Tücher auf dem Flohmarkt. Lilli ist überzogen mit Seidentuchhaut, die nicht immer ganz weiß ist. Manchmal, aber nicht überall schimmert sie bläulich und rötlich und ich bilde mir ein, ihr Blut sehen zu können, bilde mir ein, durch ihre Seidenhaut sehen zu können und wünsche mir sie bemalen zu dürfen, damit Lilli nicht ganz verschwindet.
Eigentlich heißt Lilli so wie die Blume. Ihre Ma taufte sie Lilie Marie und mir gefällt ihr Name. Ich wünsche mir auch einen Blumennamen, doch Tobias nennt mich dicker Bär und die große Sophie, die in der Schule einen Tisch hinter mir sitzt findet das so komisch, dass sie ihr Gekicher nicht lassen kann.
Meine Ma ruft meinen Namen in allen möglichen Varianten. Manchmal heiße ich Barbie, manchmal Baaabsi und ganz oft Bärbilein vergiss den Müll nicht! Böse bin ich ihr wegen meinem Namen nicht, sie ist eben meine Ma. Als ich neun war, wollte ich Jasmin heißen, so wie eine arabische Prinzessin. Es hätte zu meinem dicken, schwarzen Zopf gepasst, den mir meine Ma immer flechtet. Sie weiß manchmal nicht, wohin mit meinen Haaren. Sie sagt oft, dass man damit viel Geld verdienen kann, wenn man sie abschneidet und eine Perücke daraus machen lässt. Ich finde sie nicht so. Sie sind zu schwer und keine Frisur hält. Das haben Lilli und ich fest gestellt, als wir bei Youtube geschaut haben, wie man den perfekten Dutt macht. Meiner fiel nach einer Bewegung sofort zusammen.
Lilli findet mich mit offenen hübscher. Sie trägt ihre jetzt immer unter einer Mütze. Die sind fast so dünn wie ihre Haut geworden. Sie mag meine Haare besonders, aber neidisch ist sie nicht.
Lilie und Jasmin. Vielleicht wäre eine Jasmin auch nicht so wie eine Barbara und würde besser die Bäume hoch kommen. Dann würde sich auch der Lukas aus der hinteren Reihe mehr für mich interessieren. Er ist meistens still. Nicht so wie die anderen Jungs. Nicht, weil er schüchtern ist. Er hat ein Gesicht, dass aussieht wie ein Herz und im Geheimen frage ich mich, ob er gut küssen kann. Aber weil er nie alleine ist und immer mit Tobias rum hängt, traue ich mich nicht mal ihn anzuschauen. Sogar wenn Lukas nicht mit Tobias zusammen ist. Denn dann schaut er immer auf sein I- Phone.
Meine Ma sagt immer, dass I – Phones verboten gehören. Mal sehen, was sie sagt, wenn sie meinen Wunschzettel für Weihnachten liest.
Lukas ist wie dieser Strauch da.“ Lilli zeigt auf ein Gestrüpp, dass unter dem Baum wächst.
Er ist ein Busch?“
Ja und du bist eine Blume.“
Manchmal weiß ich nicht was Lilli meint. Sie sagt oft komische Sachen. Aber ich mag das an ihr. Und irgendwie verstehen wir uns trotzdem und manchmal wird mir erst viel später klar, was sie wirklich damit ausdrückt.
Sie braucht viel Kraft um mir auf den Baum zu helfen. Und ich frage mich, woher sie die hat. Denn weil ihr die Kraft fehlt, geht sie nicht mehr zur Schule und wir sehen uns kaum. Ich ziehe mich an ihrem Arm hoch und mein Zopf löst sich einfach auf. Meine Haare fallen wie ein schwarzer Vorhang über mein Gesicht. Das passiert mir ständig, das der Haargummi reißt, meistens bei Herr Buchsbaum im Sport.
Ich mache dir einen neuen“, sagt Lilli und wir setzen uns. Der Ast ist kräftig und ich bin froh, dass er so ist, denn eigentlich ist er mir schon fast zu hoch. Unsere Beine hängen in der Luft, während Lilli mir einen neuen Zopf flechtet. Sie nimmt ihre Mütze ab und zieht ihren Gummi aus den dünnen Haaren. Es fällt ein braunes Büschel in den Schnee.
Lilli!“
Ich sehe aus wie ein kleiner Vogel.“ Sie zeigt mit ihrem Finger auf ihre fast kahle Kopfhaut.
Ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll und lasse sie meinen Zopf zu Ende flechten. Dann steigen wir vom Baum. Es ist der einzige, der auf dem Krankenhausgelände steht. Zumindest der einzige auf den Lilli noch klettern kann. Ich spüre wie ihre Hand in meiner schwächer wird. Sie ist eiskalt und zittert. Manchmal ist Lilli so müde, dass sie nicht raus geht.
Wir laufen durch den Krankenhausflur und uns kommen Ärzte und Schwestern entgegen. Sie grüßen mich, sie kennen mich schon. Mit dem Oberarzt Maik verstehe ich mich gut. Er hat genauso blaue Augen wie Lukas. Ich frage mich ob er in der Schule eher wie Tobias war, denn dann habe ich keine Chance bei ihm.
Vergiss es“, sagt Lilli immer, wenn sie merkt wie ich ihm hinterher starre. „Er ist viel zu alt und außerdem verheiratet.“
Man wird ja wohl noch träumen dürfen.“
Träume sind Schäume“, lacht sie immer.
Wir gehen in Lillis Zimmer. Ich bringe sie in ihr Bett und decke sie zu. Mit ihrem Vogelflaum sieht sie noch zerbrechlicher aus. Die kahlen Stellen sind rot, so wie die Schürfwunden auf meiner Hand, die vom Baumklettern kommen und es tut weh sie so zu sehen. Ihr Gesicht ist weiß wie der Schnee vor dem Fenster. Ihre Lider sind kleine Schlitze. Sie wird bald schlafen. Ich lasse sie und habe Angst, dass sie nicht mehr aufwacht.
Zu Hause hole ich Ma´s Gartenschere aus der Garage, weil ich die vom Bad nicht finden kann. Ma sucht sie auch immer. So wie sie immer ihren Hausschlüssel sucht.
Vorsicht!“, warnt Pa mich oft, während meine Ma flucht und das ganze Haus auf den Kopf stellt. Er findet es lustig, wenn sie sich rein steigert. Meistens findet er den Schlüssel dann irgendwo. Im Briefkasten tauchte er mal auf, einmal sogar im Müll. Ich weiß nicht, wie meine Ma das immer macht, aber wir fragen schon gar nicht mehr. Ich mag das an ihr. Und ich mag es, wie Pa sich darüber lustig macht. Lillis Ma war früher auch lustig. Jetzt weint sie viel.
Die Gartenschere ist ziemlich groß und ich muss einen Hebel hochdrücken, damit ich sie überhaupt benutzen kann. Ich lege sie ans Waschbecken und binde meine Haare mit einem Gummi zusammen. Ich nehme den Zopf in meine ganze Hand und er ist so dick, dass ich ihn grade so umfassen kann. Ich fange an, Strang für Strang mit der klobigen Schere abzusäbeln. Nach ein paar Sekunden habe ich einen schwarzen Zopf in der Hand. Wenn ich die Hand an meine Schenkel lege geht er bis zum Boden. Er wird Lilli gefallen. Ich schaue in den Spiegel und mir gefällt, dass meine Haare nur noch bis in den Nacken gehen. Mir ist egal, ob Ma sauer wird. Das wird sie. Ich weiß es. Aber ich will Lilli nicht im Stich lassen. Niemals, sage ich mir und überlege wo Pa sein Rasierzeug immer hat.