Die Macht der Erinnerung

Die Macht der Erinnerung

Dass Kreativität aus Einschränkung von Möglichkeiten entsteht, ist allgemein bekannt. Katharina Maier setzt das in ihren VHS-Kursen um, indem sie uns Schreibanregungen gibt wie zum Beispiel „Schreibe die spannendste Geschichte, die dir einfällt.“ Manchmal reicht das nicht aus als Einschränkung – da ist es notwendig, dass in einem Workshop die Aussage getätigt wird „Mache nie, NIEMALS eine Rückblende in einer Rückblende!“ Challenge accepted! 😀 So ist „Die Macht der Erinnerung“ entstanden. Das hier ist für Katharina – ich bin gespannt was du von der Lösung hältst – und für Daniel, dem striktesten Fechter gegen Rückblenden, den ich so kenne.

Viel lieber hätte ich den Text live im Kurs gelesen und direkt Kritik abgeholt. Um so mehr würde ich mich freuen, wenn ihr alle einfach hier eure Meinung da lasst! Ist der Text spannend? Gefällt er euch? Was kann man besser machen? Sind die Rückblenden richtig eingesetzt? Was haltet ihr grundsätzlich vom Aufbau?

Fun fact zum Schreiberalltag: Dank drei Wochen Urlaub zu Corona-Zeiten war ich ziemlich produktiv. Ich habe nicht nur diese kurze Geschichte geschrieben, sondern auch die Änderungen aus dem Lektorat in meinen Anthologie-Text eingearbeitet und stehe auf Seite 540 meines ersten Wild West Romans. Noch zwanzig Seiten, dann ist die Rohfassung fertig!


Die Macht der Erinnerung

Ich lag auf meiner Pritsche. So wie immer. Im Kamin glühten die letzten Reste eines Feuers. Meine Zehen und Fingerspitzen wurden langsam kalt. Ich wollte aufstehen und ein Scheit nachlegen, doch meine Beine gehorchten mir nicht. Auch so wie immer. Die Kälte biss sich in meiner Nase fest, die daraufhin zu laufen begann. Doch ich konnte nichts tun, als das unangenehme Gefühl, mich selbst zu beschmutzen, stoisch zu ertragen.

Neben dem Kamin spielte meine Tochter Cilly mit den Puppen, die ihr ihr Onkel Matt aus Futtersäcken genäht hatte. Die Kleine plapperte fröhlich vor sich hin. So gerne hätte ich sie ein einziges Mal in den Arm genommen; vermisste den ganzen Tag ihren süßen, warmen Geruch, der mir jeden Abend entgegen strömte, wenn sie mir einen Kuss auf die Stirn hauchte und flüsterte: „Gute Nacht, Mummy. Ich hab dich lieb.“

Cilly stand plötzlich auf, in jeder Hand eine Puppe und schimpfte, während sie mit der linken Hand wackelte: „Und ich bin doch eine gute Jägerin!“ Jetzt wackelte sie mit der rechten Hand und antwortete mit einer brummigen Stimme: „Du kannst nicht jagen gehen. Du bist nur ein Mädchen!“
Mein Herz zog sich zusammen. Wer hatte ihr gesagt, dass Mädchen nicht jagen konnten? Früher hatte ich Rotwild und Kaninchen besser erwischt, als meine Brüder.
„Ich kann ganz toll schießen! Und ich kann gaaaanz lang auf der Lauer liegen!“
Ich musste innerlich schmunzeln. Meiner Kleinen gelang es nicht einmal für fünf Minuten still zu sitzen.
„Du bist doch noch viel zu klein!“, brummte sie mit der rechten Hand.
„Ich zeig dir, wie gut ich schießen kann!“, piepste die Linke.

Cilly legte beide Puppen zur Seite und kletterte auf einen Stuhl, von da auf den Tisch, stellte sich dann auf die Zehenspitzen und streckte die kleine Hand nach dem Gewehr an der Wand aus. Mein Herz begann wild zu schlagen. „Nicht!“, wollte ich schreien, doch meine Stimme ließ mich im Stich. Hilflos beobachtete ich aus dem Augenwinkel, wie die Kleine tatsächlich den Kolben erreichte. Matt hatte das Gewehr immer geladen. Hier draußen musste man jederzeit für alles bereit sein. Warum kam er nicht nach Hause?
Ich kämpfte gegen die Bande, die mich ans Bett fesselten. Mein Herz schlug immer schneller – während mein Baby es tatsächlich schaffte die tödliche Waffe vom Haken zu ziehen.

Ich kannte dieses Gefühl und hasste es. Das Gefühl, dass meine Tochter in Lebensgefahr schwebte und ich nichts tun konnte, um sie zu retten. Das gleiche Gefühl wie an jenem Tag, als ich beschlossen hatte meinen Ehemann zu verlassen. John war in der Nacht wiedereinmal erst im Morgengrauen nach Hause gekommen. Er war so betrunken, dass er ins Bett fiel und sofort anfing zu schnarchen. Ich lag neben ihm, roch seine Ausdünstungen nach Alkohol, Schweiß und Pisse und atmete zitternd aus. Wenigstens heute war er zu betrunken, um mich zu schlagen und ich war dankbar dafür. Wie hatte es soweit kommen können?
Dass er wusste, dass ich mich in seinen Bruder verliebt hatte, half sicher nicht. Seit er uns zwei Wochen zuvor zusammen erwischt hatte, waren seine Übergriffe immer brutaler geworden.

Dabei war Matt nur zufällig vorbei gekommen, um ein geschossenes Reh vorbei zu bringen. Ich zuckte zusammen als er wie immer ohne zu klopfen die Tür aufstieß und versuchte hastig meine blauen Flecken und Brandwunden zu verbergen.

„Was hast du da?“, fragte er rau und trat auf mich zu. Sanft schob er meine Hand zur Seite und begutachtete die Wunden. „Dieser Mistkerl“, fluchte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. Meine Wange und mein Arm schmerzten höllisch, doch unter seinen vorsichtigen Berührungen, als er Salbe darauf gab und den Arm mit frischen Leintüchern verband, flatterte mein Magen aufgeregt. Cilly begann in ihrer Wiege zu weinen und wir lächelten uns beinahe schüchtern an.

Der Tag an dem sie geboren worden war, hatte uns für immer zusammen geschweißt. Es war mitten im Winter und es hatte die ganze Nacht geschneit. Dicke Flocken fielen vom Himmel und ich wartete unruhig darauf, dass John endlich aus der Stadt zurück kam. Ruhelos lief ich im einzigen Raum unserer Hütte auf und ab. Plötzlich fühlte ich wie Flüssigkeit meine Beine hinunter lief und starrte fassungslos auf die Lache aus Fruchtwasser zu meinen Füßen. Dann traf mich die erste Wehe. Mein aufgeblasener Bauch krampfte sich zusammen und die Schmerzen ließen mich zu Boden sinken.
„Verflucht John, warum bist du nicht da?“ Meine ganze Frustration und Angst wandelte sich in Wut auf meinen Mann. „Du weißt doch, dass es jeden Moment soweit sein kann! Du hast geschworen, für mich zu sorgen!“

Und das vor noch nicht einmal einem Jahr. So stolz hatte er mir am Tag unserer Hochzeit entgegen geblickt, als ich den Gang der Kirche entlang geschritten war. Ich wusste, dass ich nicht direkt hübsch war und froh sein konnte, dass sich ein gutaussehender Bursche wie John für mich interessierte. Er hatte seine eigene Ranch und war der Schwarm aller Mädchen im County. Ich hatte zwar ein flaues Gefühl im Magen, weil ich ihn nicht richtig kannte – doch wer kannte sich schon vor der Hochzeit wirklich?

Johns Bruder Matt stand neben ihm und zwinkerte mir zu. Offensichtlich hatte er bemerkt, wie ich immer langsamer wurde. Was bildete sich dieser Kerl ein? Matt war auf eine rauere Art ebenso gutaussehend wie John, stand im Ruf, ein Weiberheld zu sein und war ein echter Tunichtgut, der seinen Lebensunterhalt mit Fallenstellen und Kartenspiel bestritt. Ein richtiges Ekel. Ich hatte entschlossen mein Kinn gehoben und war auf meinen bald Ehemann zu geschritten.

Die nächste Wehe riss mich mit sich fort und ich konnte nur noch schreien. Die Tür flog auf. Ich war fest davon überzeugt, dass John endlich nach Hause gekommen war, um die Hebamme zu holen und mir beizustehen. Doch es war Matt, der mich kühl musterte und dann einfach zu mir trat. So als wäre es nicht das aller erste Mal seit der Hochzeit, dass er uns besuchte. Warum kam er ausgerechnet jetzt?
„Wo ist John?“, fragte er nur.
„In der Stadt.“ Hektisch atmete ich ein und ließ die nächste Wehe über mich hinweg schwappen.
„Der Schnee liegt zu tief. Die Hebamme wird es nicht bis hierher schaffen.“
Ich begann zu hassen, wie er in völlig neutralem Ton sprach, während ich mich in Schmerzen wand. Mir blieb nichts anderes übrig als mich vor diesem rohen Kerl schwitzend und gekrümmt aufs Bett zu legen.

Die nächsten Stunden waren schlimm. Matt war immer an meiner Seite, brachte mir Wasser zum trinken; sprach mir ruhig zu – in der gleichen Art wie John seinen Rindern. Als die letzte Phase begann und er mir den Rock hochschob, war ich so ausgelaugt, dass ich es ohne Protest geschehen ließ.
Roter Schmerz brach über mir zusammen – dann war es endlich vorbei. Als ich wieder klar denken konnte, hielt Matt mit staunenden Augen ein kleines, schreiendes Wesen im Arm. Ein Lächeln brach seine kantigen Züge auf, das mich tief im Innersten berührte. Ich konnte den Blick nicht von ihm und dem kleinen Wunder in seiner Armbeuge nehmen. Eine mächtige aus Woge Liebe und Dankbarkeit überschwemmte mich und ich hatte gewusst: für dieses kleine Bündel Mensch würde ich sterben, wenn es sein musste.

Cilly wurde bald wieder ruhig in ihrer Wiege, wie meistens, und Matt zog den Verband fest. Er hob die Hand an meiner Wange, zeichnete mit dem Daumen zart meinen Wangenknochen nach und sah mir ernst in die Augen. Eigentlich hätte ich ihn stoppen sollen, da ich wusste wie eifersüchtig John manchmal reagieren konnte, doch diese eine Geste war soviel sanfter als alles, was ich in den beiden Jahren meiner Ehe erlebt hatte, dass ich es einfach nicht über mich brachte, mich ihm zu entziehen und einfach still hielt. Matts Blick wurde weich und ganz langsam senkte er seine Lippen auf meine. So unendlich zärtlich zuerst, dann rauer mit unterdrückter Verzweiflung. Glück traf meine Lippen wie ein Blitzschlag und strömte den Hals hinunter, in meinen Bauch und von dort in jede Fingerspitze.
„Was soll das?“, brüllte es plötzlich hinter uns und wir fuhren auseinander.
„Verschwinde aus meinem Haus, Matt“, knurrte John. „Ich will dich hier nie wieder sehen!“

Und mein Mann hielt sein Wort. In den letzten beiden Wochen hatte er mich nicht aus dem Haus gelassen, mich dafür täglich gezüchtigt. Matt hatte ich kein einziges Mal seitdem gesehen. Als ich meinen Mann neben mir schnarchen hörte, dachte ich darüber nach, wie paradox es war, dass ich auch noch dankbar für seinen Suff war. Was würde ich tun, wenn er eines Tages auf Cilly los ging? Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich das erste Mal seit zwei Wochen keine Angst hatte, dass mein Mann plötzlich heim kam und mich oder mein Kind schlug. Ich setzte mich im Bett auf. Er rührte sich nicht.
Wenn ich ihn jetzt nicht verließ, würde ich den Mut vielleicht nie aufbringen. Ich schwang meine Beine aus dem Bett, kleidete mich an, nahm Cilly aus ihrer Wiege und schloss, ohne einen Blick zurück, die Haustüre hinter mir.

Kalte Morgenluft strömte mir entgegen und ich sog tief die neue Freiheit ein, die mich willkommen hieß. Im Stall sattelte ich ein Pferd und führte es nach draußen.
Da schwang die Haustür knarzend auf. Im Rahmen stand schwankend mein Mann, das Gewehr im Anschlag.
„Wo willst du hin Weib?“, lallte er.
„Ich…“
„Verlassen wolltest du mich!“, unterbrach er mein Stottern. „Dafür wirst du büßen!“
Entsetzt sah ich, wie er das Gewehr entsicherte. Ich hatte nur noch Zeit Cilly an meine Brust zu drücken, mich weg zu drehen und sie mit meinem Körper abzuschirmen. Da trat Matt aus dem Schatten des Waldes und ich spürte einen Anflug von Erleichterung. Auch er hielt sein Gewehr schussbereit.
„John, nimm die Waffe runter“, schrie er seinem Bruder zu und kam näher.
„Nein!“, rief ich. Dann krachte ein Schuss und kurz darauf ein zweiter. Benommen sah ich wie mein Mann in die Knie brach. Ein Brennen stach an meinem Hinterkopf. Ich streckte die Hand danach aus. Als ich sie zurück zog, stellte ich verwundert fest, dass Blut daran klebt. Cilly begann zu weinen. Wenigstens meinem Kind geht es gut, hatte ich gedacht, bevor alles um mich schwarz geworden war.

Mein Herz bäumte sich auf. Wie ungerecht war es, dass meine Tochter ihre abenteuerliche Geburt und ihren gewalttätigen Vater überlebt hatte, sich jetzt aber vor meinen Augen beim spielen selbst erschoss. Ich fing an zu schreien und mich zu winden. Es durfte nicht sein! Ich schluchzte, während ich weiter gegen meinen bewegungslosen Körper ankämpfte, der mich seit vier langen Jahren gefangen hielt. Erst allmählich wurde mir bewusst, dass Cilly ihren Kopf gehoben hatte und mich verwundert anblickte. Wieder schrie ich und beobachtete verdutzt und unendlich erleichtert, wie meine Tochter das Gewehr auf den Boden legte und auf mich zulief.
„Du bist wach, Mummy“, flüsterte sie.
„Ja, mein Schatz“, antwortete ich mit brüchiger Stimme. „Ich hab dich unendlich lieb!“ Und das erste Mal seit diesem schrecklichen Tag drückte ich meine kleine Tochter ganz fest an mich.